In unserer zunehmend globalisierten Welt wird Bilingualismus immer häufiger zur Norm. Während Mehrsprachigkeit durch schulische Fremdsprachen oft positiv gesehen wird, wird die herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit oft als negativ wahrgenommen, da befürchtet wird, dass die Nutzung der Herkunftssprache die sprachliche und schulische Entwicklung im Deutschen beeinträchtigt (Hopf, 2011). In Deutschland gibt es viele Sprechergruppen für Sprachen wie Russisch, Türkisch, Polnisch, Arabisch und andere (Hopf, 2011; Brehmer & Mehlhorn, 2018). Doch trotz der vielen Vorteile, die mit dem Sprechen mehrerer Sprachen einhergehen, sind viele Menschen immer noch von veralteten Mythen und Missverständnissen über Bilingualismus beeinflusst. Häufig wird angenommen, dass Bilingualismus zu Sprachverwirrung oder geringerer Kompetenz in beiden Sprachen führt. Diese Vorurteile können Eltern, Lehrer und die Gesellschaft im Allgemeinen beeinflussen, wenn es darum geht, die Vorteile der Zweisprachigkeit zu erkennen und zu fördern. Ist es wirklich so, dass das Lernen von zwei Sprachen gleichzeitig Kinder verwirrt oder dass Erwachsene keine neue Sprache mehr fließend erlernen können? Welche Wahrheiten verbergen sich hinter den häufig gehörten Vorurteilen?
Mythen und Missverständnisse über Bilingualismus
Zahlreiche Mythen und Missverständnisse, wie Kinder bilingual zu erziehen sind, verwirren Eltern und hindern sie oft daran, ihren Kindern die vielen Vorteile der Zweisprachigkeit zu ermöglichen. Im Folgenden werden daher die zehn größten Mythen präsentiert, an denen viele Menschen fälschlicherweise festhalten, die aber von den Linguistik Professorinnen Kendall King und Alison Mackey (2007) widerlegt wurden.
1. Mythos: Bilinguale Erziehung nur durch bilinguale Eltern?
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist, dass nur Eltern, die selbst bilingual sind, ihre Kinder zweisprachig erziehen können und dass alle Kinder von bilingualen Eltern automatisch bilingual aufwachsen. Die Forschung zeigt jedoch, dass dies nicht immer zutrifft. So erziehen viele bilinguale Immigrantenkinder ihre eigenen Kinder nicht zweisprachig. Auch monolinguale Eltern können ihre Kinder zweisprachig erziehen, wenn sie die richtigen Bedingungen schaffen. Es ist entscheidend, dass Kinder regelmäßig die Sprache hören, die sie lernen sollen. Dies kann durch fremdsprachige Kindermädchen, befreundete Familien, die eine andere Sprache sprechen, oder durch Betreuer:innen erfolgen. Solche Maßnahmen können einen großen Einfluss auf die Sprachentwicklung der Kinder haben (King & Mackey, 2007, S. 19).
2. Mythos: Ist es jemals zu spät, eine zweite Sprache zu lernen?
Ein weiterer verbreiteter Mythos besagt, dass es meist zu spät sei, eine zweite Sprache zu lernen, wenn man nicht früh damit beginnt. Doch die Forschung zeigt, dass Menschen jeden Alters – ältere Kinder, Teenager und sogar Erwachsene – unter den richtigen Bedingungen sehr wohl eine zweite Sprache erfolgreich erlernen können. Forscher:innen betonen, dass Faktoren wie Motivation und die investierte Zeit entscheidend sind. Während Kinder tendenziell leichter eine neue Sprache mit muttersprachlichem Akzent erlernen, sind ältere Kinder und Erwachsene oft schneller darin, komplexe grammatische Strukturen zu verstehen und zu beherrschen. Es ist also nie zu spät, eine neue Sprache zu lernen, solange die Umstände und der Einsatz stimmen (King & Mackey, 2007, S. 21).
3. Mythos: Können nur Muttersprachler und Lehrer eine zweite Sprache vermitteln?
Ein weiterer Mythos behauptet, dass nur Muttersprachler:innen und Lehrer:innen in der Lage seien, Kindern eine zweite Sprache beizubringen. Dabei lernen Kinder eine Sprache nicht, weil sie grammatikalisch korrekt verwendet wird, sondern weil sie aktiv in die Kommunikation einbezogen werden. Entscheidend ist nicht, dass Kinder perfekte Sätze hören, sondern dass sie direkt in Gespräche eingebunden sind. King und Mackey (2007) betonen: „What is critical is not that children hear complete sentences but that they are directly engaged in conversation.” Für die Sprachentwicklung ist es viel wichtiger, aktiv mit den Kindern zu sprechen, als dass sie eine perfekte Muttersprachlerin hören (S. 23).
4. Mythos: Alle Kinder in einer Familie entwickeln die gleiche Sprachkompetenz
Ein weiteres Missverständnis ist die Annahme, dass alle Kinder in einer Familie die gleiche Sprachkompetenz entwickeln. Die Sprachbeherrschung eines Kindes hängt von vielen Faktoren ab, darunter Persönlichkeit und Begabung. King und Mackey (2007) fanden heraus, dass erstgeborene Kinder häufiger die Sprache(n) der Eltern zusätzlich zur Umgebungssprache erlernen. Später geborene Kinder verbringen im Durchschnitt weniger Zeit allein mit den Eltern, was ihre Sprachentwicklung beeinflussen kann (King & Mackey, 2007, S. 24).
5. Mythos: Alle Grammatik- und Vokabelfehler müssen sofort korrigiert werden
Ein weiterer Mythos ist die Annahme, dass alle Grammatik- und Vokabelfehler sofort korrigiert werden müssen, um schlechte Gewohnheiten zu vermeiden. Dabei wird oft übersehen, dass Fehler ein natürlicher Teil des Spracherwerbs sind, unabhängig davon, ob jemand monolingual oder bilingual aufwächst. Fehler zu machen gehört zum Lernprozess dazu. Ständige Korrekturen können jedoch die Motivation und das Selbstvertrauen der Lernenden beeinträchtigen und dazu führen, dass sie aufhören, die Sprache zu sprechen. Es ist wichtiger, eine unterstützende und ermutigende Umgebung zu schaffen, in der Kinder sich sicher fühlen, die Sprache zu verwenden (King & Mackey, 2007, S. 25).
6. Mythos: Bilinguale Kinder beginnen später zu sprechen
Ein häufiger Mythos besagt, dass Kinder, die zwei Sprachen erlernen, zwangsläufig später zu sprechen beginnen. Die Forschung hat jedoch gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Es gibt keine Hinweise darauf, dass bilinguale Kinder später als monolinguale Kinder mit dem Sprechen anfangen. Bilingualität führt daher nicht zu Sprachverzögerungen (King & Mackey, 2007, S. 62). Tatsächlich hat Bilingualismus sogar positive Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung, einschließlich besserer Problemlösungsfähigkeiten und größerer kognitiver Flexibilität (Kuhl, 2011).
7. Mythos: Sprachvermischung führt zu Sprachverwirrung
Ein weiterer Mythos besagt, dass das Vermischen von Sprachen ein Zeichen von Verwirrung ist und dass Sprachen immer strikt nach der „Eine Sprache – Eine Person“ Strategie getrennt werden müssen, um zu verhindern, dass Kinder keine der Sprachen richtig beherrschen. Viele Menschen glauben also, dass das Erlernen von zwei Sprachen gleichzeitig bei Kindern zu Sprachverwirrung führt und ihre sprachliche Entwicklung behindert. Einige Sprachwissenschaftler, wie Baker (2007), widersprechen jedoch King und Mackey (2007), indem sie argumentieren, dass Kinder lernen sollten, je nach Gesprächspartner die Sprache zu wechseln, anstatt innerhalb einer Gesprächssituation (Baker, 2007, S. 67).
King und Mackey (2007) betonen, dass selbst kleine Kinder in der Lage sind, ihre Sprachen zu unterscheiden, und dass es normal ist, wenn bilinguale Kinder ihre Sprachen mischen. Dieses Phänomen legt sich in der Regel vor dem Schuleintritt (King & Mackey, 2007, S. 27). Wenn Sprachen gemischt werden, folgt dies einem bestimmten Regelsystem, das zeigt, dass Kinder die unterschiedlichen grammatikalischen Regeln der jeweiligen Sprachen kennen. Daher ist es laut King und Mackey (2007) nicht notwendig, beide Sprachen streng zu trennen (King & Mackey, 2007, S. 28).
In diesem Zusammenhang unterscheiden sie zwischen „Code-Switching“ und „Code-Mixing“:
– Code-Switching ist das, was geübte Bilinguale tun, um sich und komplexe Ideen auszudrücken. Es ist in vielen bilingualen Gemeinschaften sehr verbreitet und dient oft als wichtige kommunikative und strategische Ressource (King & Mackey, 2007, S. 190). Das Mischen von Sprachen (Code-Switching) ist ein normales Phänomen bei Bilingualen und zeigt deren sprachliche Kompetenz und Flexibilität. Es ist kein Zeichen von Verwirrung (Grosjean, 1982).
– Code-Mixing hingegen beschreibt das Vermischen von zwei Sprachen während des Erlernens und beruht darauf, dass den Sprechern Vokabular in einer oder beiden Sprachen fehlt.
Code-Switchingist ein Zeichen dafür, dass die Sprecher beide Sprachen gut beherrschen und mit Leichtigkeit zwischen ihnen wechseln können, um ihre Gedanken auszudrücken. Dabei beachten sie die grammatikalischen Regeln beider Sprachen und wissen genau, was wie gesagt werden kann und was nicht (King & Mackey, 2007, S. 194).
8. Mythos: Fernseher und sprechende Spielzeuge fördern den Spracherwerb
Ein weit verbreiteter Mythos lässt Eltern glauben, dass Fernseher, DVDs und sprechende Spielzeuge ihren kleinen Kindern beim Erlernen einer Sprache helfen. Die Forschung zeigt jedoch, dass Kinder für den Spracherwerb den Kontakt mit echten Menschen brauchen, nicht mit Computerspielen, DVDs oder einem sprechenden Teddybären. Wichtiger ist es, dass Eltern ihren Kindern in der jeweiligen Sprache vorlesen oder interaktive Spiele wie Verstecken spielen. Direkte, menschliche Interaktion ist entscheidend, um die Sprachentwicklung zu fördern (King & Mackey, 2007, S. 29).
9. Mythos: Bilinguale Ausbildung ist nur für nicht-englischsprachige Kinder
In den USA herrscht der Mythos, dass bilinguale Ausbildungsprogramme nur für Kinder gedacht sind, die kein Englisch sprechen. King und Mackey (2007) widerlegen diesen Mythos mit ihren Untersuchungen, die zeigten, dass sowohl englische als auch spanische Muttersprachler ähnliche Lernergebnisse erzielen können, wenn sie ein bilinguales Schulprogramm besuchen (King & Mackey, 2007, S. 30). Interessanterweise ist dieser Mythos in Europa weniger relevant, da dort die kontinuierliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Sprachen üblich ist und der Besuch von bilingualen Schulen weit verbreitet ist.
10. Mythos: Kinder können maximal zwei Sprachen erlernen
Der letzte Mythos, den King und Mackey (2007) ansprechen, ist die Annahme, dass Kinder höchstens zwei Sprachen lernen können und bei mehr überfordert wären. Diese Vorstellung widerlegen sie leicht, indem sie auf Länder wie Singapur und die Schweiz verweisen, wo viele Kinder von klein auf drei verschiedene Sprachen sprechen: eine in der Familie, eine andere in der Schule und eine dritte in der Umgebung. Weltweit wachsen viele Menschen mit drei oder mehr Sprachen auf und sind völlig gesund. Dieser Mythos ist in einer überwiegend monolingualen Gesellschaft wie den USA entstanden und würde in einem multilingualen Umfeld sofort durch die alltäglichen Beispiele widerlegt werden (King & Mackey, 2007, S. 31).
Bilingualismus und kulturelle Diversität: Chancen und Vorteile
In unserer globalisierten Welt wird Bilingualismus zur Norm. Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit wird oft negativ wahrgenommen, doch Studien widerlegen viele Mythen darüber. Bilingualismus führt nicht zu Verwirrung oder Entwicklungsverzögerungen, sondern verbessert Problemlösungsfähigkeiten und kognitive Flexibilität. Bilinguale Erziehung bringt zahlreiche kognitive und kulturelle Vorteile und ist in jeder Lebensphase möglich. Fehler sind ein natürlicher Teil des Lernprozesses und sollten nicht entmutigen.
Abbildungsverzeichnis
Titelbild: Bild von Trid India (Nutzername: „Tridindia“) (2022). In Pixabay. Zugriff am 08.07.2024. Verfügbar unter https://pixabay.com/es/photos/lenguaje-diferente-internacional-7389469/
Abbildung 1: Bild von Gerd Altmann (Nutzername: „geralt“) (2024). In Pixabay. Zugriff am 08.07.2024. Verfügbar unterhttps://pixabay.com/es/illustrations/ai-generado-realimentaci%C3%B3n-8862444/
Abbildung 2: Bild von Timur Weber (2021). In Pexels. Zugriff am 08.07.2024. Verfügbar unter https://www.pexels.com/de-de/foto/sitzung-sitzen-kind-elternteil-9127146/
Literaturverzeichnis
Baker, C. (2007). Zweisprachigkeit zu Hause und in der Schule. Ein Handbuch für Erziehende. Engelschoff: Verlag auf dem Ruffel.
Bremer, B. & Mehlhorn, G. (2018). Herkunftssprachen. Tübingen: Narr.
Grosjean, F. (1982). Life with two languages: An introduction to bilingualism. Cambridge, Mass: Harvard University Press, 370pp.
Hopf, D. (2011). Schulleistungen mehrsprachiger Kinder: Zum Stand der Forschung. In S. Hornberg, & R. Valtin (Hrsg.), Mehrsprachigkeit. Chance oder Hürde beim Schriftspracherwerb? Empirische Befunde und Beispiele guter Praxis (S. 12-31). Berlin: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben.
King, K. & Mackey, A. (2007). The Bilingual Edge. Why, When, and How to Teach Your Child a Second Language. New York: HarperCollins Publishers.
Kuhl, P. K. (2011). Early Language Learning and Literacy: Neuroscience implications for Education. Mind, Brain, and Education: The Official Journal of the International Mind, Brain, and Education Society, 5(3), 128-142. doi:10.1111/j.1751-228X.2011.01121.x