Seit meinem 15ten Lebensjahr leide ich an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und einer dissoziativen Störung. Trotz vieler Anzeichen, Termine bei unterschiedlichsten Fachärzten, Psychiatern und psychologischen Psychotherapeuten habe ich die Diagnosen erst mit 31 Jahren erhalten. Auf das Fachpersonal wirkte ich immer gesund und munter.
Meine Erkrankung kannte ich jedoch bereits schon mit 17 Jahren. Damals in der Fachoberschule nahm mich meine Psychologie-Lehrerin beiseite und sagte mir, dass mit mir etwas nicht stimmt. Nach längeren Gesprächen wies sie mich darauf hin, dass ich vermutlich Flashbacks und Dissoziationen habe und mir einen Psychotherapeuten suchen solle. Verstanden habe ich damals gefühlt nichts. Ich wusste nur, ich bin anders als alle anderen.
Bevor ich aber berichte, wie es sich anfühlt, mit Flashbacks und Dissoziationen zu leben, möchte ich kurz erläutern, was unter diesen Erkrankungen zu verstehen ist. Anschließend gehe ich auf meine eigenen Erfahrungen mit diesen Erkrankungen ein.
Posttraumatische Belastungsstörung
Das ICD-10 beschreibt, dass eine PTBS „als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß“ (Dilling & Freyberger, 2019, S. 173) entsteht. Um eine PTBS zu diagnostizieren, ist es unabdingbar, dass die Person, die Ereignisse wiedererlebt oder erinnert (Flashbacks), wiederholt davon träumt, lebendige Erinnerungen an das Erlebnis hat oder eine innere Bedrängnis empfindet in Situationen, die der Ursprungssituation ähneln. Als drittes Kriterium beschreibt das ICD-10 eine Vermeidung der traumatisierenden Umstände, ähnliche oder mit diesem in Zusammenhang stehende Umstände (Dilling & Freyberger, 2019, S. 174).
Bei der PTBS wird zwischen einem akuten Trauma (z. B. nach einer Flutkatastrophe, einem Unfall; Typ-I-Trauma) und komplexen Traumata (z. B. nach wiederkehrenden Misshandlungen; Typ-II-Trauma) unterschieden (Frommberger, Nyberg, Angenendt, Lieb & Berger, 2019, S. 506).
Für eine Therapie beschreiben Frommberger und Kollegen (2019) verschiedene Optionen. Bei akuten Traumata kann z. B. mit Psychopharmaka gearbeitet werden, um eine PTBS zu verhindern. Ansonsten empfiehlt sich eine Psychotherapie. Bei komplexen Traumata hat sich eine Therapie nach der Eye Movement Desenstization and Reprocessing (EMDR)-Methode etabliert (Frommberger et al., 2019, S. 517–518, 521).
Dissoziative Störungen
Kring, Johnson und Hautzinger (2019) beschreiben, dass bei allen dissoziativen Störungen davon gesprochen werden kann, dass das Bewusstsein in irgendeiner Form verändert ist. Dies kann die Eigenwahrnehmung, das Gedächtnis oder die eigene Identität betreffen (S. 274). Im ICD-10 werden verschiedenste dissoziative Störungen unterschieden, die vier bedeutsamsten dissoziativen Störungen sind die Depersonalisations-/Derealisationsstörung, die dissoziative Amnesie und die dissoziative Identitätsstörung (Dilling & Freyberger, 2019, S. 154–155; Kring et al., 2019, S. 275). In der nachfolgenden Tabelle sind zu den vier genannten dissoziativen Störungen die wichtigsten Merkmale zusammengefasst.
Diagnose | Beschreibung |
Depersonalisationsstörung | anhaltendes oder wiederholtes Auftreten von Unwirklichkeitserleben oder Entfremdung vom eigenen seelischen, körperlichen oder Selbsterleben |
Derealisierungsstörung | anhaltendes oder wiederholtes Auftreten von Unwirklichkeitserleben oder Entfremdung von der Umgebung |
Dissoziative Amnesie | Unfähigkeit autobiografische Informationen abzurufen; kann lokal, selektiv oder generalisiert auftreten |
Dissoziative Identitätsstörung | Vorhandensein von zwei oder mehr voneinander unterscheidbarer Persönlichkeitszuständen oder dem Erleben von Besessenheit |
(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Falkai & Witschen, 2018, S. 397-398; Bring et al., 2019, S. 275)
Freyberger und Stieglitz (2019) beschreiben, dass Dissoziationen eine Art Abwehrmechanismus sind, die die Betroffenen in Folge von verschiedenen traumatisierenden Ereignissen in der Kindheit und Jugend erlernt haben. Zu diesen Ereignissen gehören neben sexuellen Missbrauch auch frühe Gewalterfahrungen und Aggressionen durch enge Bezugspersonen. Diese Erfahrungen werden z. B. durch eine Depersonalisation oder eine Derealisation erträglich gemacht oder ganz ausgeblendet. Hierdurch kann es dazu kommen, dass im weiteren Verlauf des Lebens ebenso auf konfliktbehaftete Situationen reagiert wird (Freyberger & Stieglitz, 2019, S. 536–537).
Da Patienten mit dissoziativen Störungen im Durchschnitt bereits sieben Jahre erkrankt sind, bis es zu einer Diagnose und entsprechenden Therapie kommt, empfehlen Freyberger und Stieglitz (2019) zu Beginn einer Therapie ein Aufklärung des Patienten über das Krankheitsbild und anschließend eine symptomorientierte Behandlung (S. 535, 538). In der Tabelle 3wird ein Ablaufplan für eine Verhaltenstherapie bei dissoziativen Störungen dargestellt.
Gruppen | Module |
I. Dissoziative Symptome verstehen und Veränderungsmotivation erhöhen | 1. Problem- und Verhaltensanalyse 2. Psychoedukation 3. Stärkung der Veränderungsmotivation |
II. Dissoziative Symptome erkennen und reduzieren | 1. Erarbeitung von Frühwarnzeichen 2. Strategien zur Unterbrechung der Dissoziation (antidissoziative Fertigkeiten) 3. Kontigenzmanagement der Konsequenzen |
III. Akute Verwundbarkeit reduzieren | 1. Normalisierung von Trink- und Essverhalten 2. Besserung des Schlafs 3. Reduktion sonstiger Verwundbarkeitsfaktoren |
IV. Situationsüberdauernde Anfälligkeit | 1. Achtsamkeitsübungen reduzieren 2. Verbesserung der Affektregulation 3. Kognitive Interventionen 4. Aufbau eines erfüllten Lebens |
V. Auslösesituationen angehen | 1. Beenden ungünstiger Auslösesituationen 2. Exposition gegenüber nicht schädlichen Stimuli 3. Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung |
(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Freyberger & Stieglitz, 2019, S. 539)
Mein Leben mit Flashbacks und Dissoziationen
Wie bereits eingangs beschrieben, wusste ich nach meiner traumatischen Erfahrung (wobei an dieser Stelle gesagt werden muss, dass es bereits in früher Kindheit viele traumatisierende Ereignisse gab), dass ich anders bin als die Teenager in meinem Umfeld. Ich empfand kaum noch Lebensfreude und machte alles, was meine Eltern von mir verlangten. Im Sommer 2011 habe ich im Alter von 24 Jahren das erste Mal gegen meine Eltern rebelliert und meinen Job gekündigt und mit einem Studium begonnen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine erste bewusste Depersonalisierung.
Belastend wurden die Depersonalisierungen und Flashbacks jedoch erst in den Jahren 2015/2016, als ich Konflikte am Arbeitsplatz hatte. Meine Kollegin hat mich optisch und charakterlich sehr an meine Mutter erinnert. Im Job bekam ich immer häufiger eine Depersonalisierung. Auf mein Verhalten angesprochen, konnte ich immer nur sagen, dass ich davon nichts wisse. Dies entsprach der Wahrheit. Die Situationen haben für mich nicht stattgefunden. Irgendwann hatte ich nicht nur Depersonalisierungen, sondern bereits im Vorfeld Flashbacks. Diese haben sich darin geäußert, dass ich neben dem Wiedererleben der eigentlichen Misshandlung, Krampfanfälle bekommen habe und am ganzen Körper gezittert habe. Mir war schwindelig, ich hatte Übelkeit und konnte nicht mehr Reden. Aufgrund dieser Symptome bin ich mehrmals in der Notaufnahme gelandet und wurde ohne Diagnose wieder nach Hause geschickt. Nach einem Jobwechsel und einem Jahr der Symptomfreiheit begannen die Flashbacks und Dissoziationen wieder. Diesmal war es ein Kollege, der mich mit seiner Art getriggert hat. Aber nicht nur das: Es fing an, dass ich in Restaurants, an der Kasse des Supermarkts, in der Bücherei oder der Buchhandlung, beim Arzt, eigentlich überall getriggert wurde. Der Zustand war nicht mehr tragbar. Es fühlte sich an wie ein Kessel mit heißem Wasser, der dringend Dampfablassen muss, aber irgendjemand den Deckel ganz fest draufdrückt und nicht loslässt.
Nach diesen ganzen unangenehmen Situationen habe ich mich auf die Suche nach einer psychotherapeutischen Fachkraft mit Schwerpunkt komplexe Traumatisierungen gemacht. Innerhalb von zwei Jahren Therapie konnte ich mithilfe von EMDR meine Traumata überwinden. Ich habe heute keine Flashbacks mehr. Wenn ich stressige Phasen habe und meine Selbstfürsorge zu kurz kommt, kann es passieren, dass ich heute noch Dissoziationen bekommen. Jedoch habe ich gelernt, wann Dissoziationen kommen und wie ich mit ihnen umgehen kann. So weiß ich heute, wenn meine Mundpartie taub wird, dass ich noch ca. 30 – 45 Minuten Zeit habe, einen für mich sicheren Ort aufzusuchen (wie z. B. mein Auto oder meine Wohnung, im Notfall geht aber auch eine Parkbank weit weg von anderen Menschen). Im Idealfall habe ich meinen Hund dabei, den ich in den Arm nehmen kann und streichle. Der Hund ist für mich ein Safe-Space, egal wo ich bin. Dies ist für mich sehr wichtig, da ich in meiner Kindheit keine Haustiere hatte und dieser nur in der Jetzt-Zeit existiert. Des Weiteren wissen alle Menschen in meinem Umfeld über meine Erkrankung bescheid. D. h., wenn ich sage, dass eine Dissoziation kommt, wissen alle, dass sie Ruhe bewahren müssen und mich am besten nicht ansprechen, bis ich wieder mit ihnen rede. Ebenso weiß mein Umfeld, dass ich z. B. nicht von hinten angesprochen werden darf, da dies dazu führt, dass ich sofort eine Depersonalisierung erlebe.
Durch mein Psychologie-Studium habe ich sehr viel Wissen über Lernprozesse und psychische Erkrankungen erworben, wodurch mir der Umgang mit meinen Erkrankungen heute viel leichter fällt.
Fazit
Jeden Betroffenen kann ich nur raten, lange Anfahrtswege zu spezialisierten Psychotherapeut:innen aufzunehmen. Weiterhin ist es ratsam, das Umfeld mit einzubinden, da eine solche Erkrankungen immer einen Einfluss auf die Beziehungen hat. Wenn das Umfeld über die Erkrankung informiert ist, kann es ebenso den Umgang mit dieser erlernen. Gemeinsam lernen macht außerdem viel mehr Freude als allein zu lernen. Auch wenn das Erzählen am Arbeitsplatz über diese Erkrankung einer Person schwerfällt, so kann ich dies aus eigenen Erfahrungen nur empfehlen, da einen ein ganz anderes Verständnis entgegengebracht wird.
Mein persönliches Fazit ist, dass Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen bei einem Selbst beginnt. Nur wenn ich mit mir und meiner Erkrankung offen umgehe, können andere Menschen lernen, ebenfalls offen mit einer psychischen Störung umzugehen.
Literatur
Dilling, H. & Freyberger, H. J. (2019). ICD-10: Taschenführer zur ICD-10-Klassifikaton psychischer Störungen (9.). Bern: Hogrefe.
Falkai, P. & Wittchen, H.-U. (2018). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5(R) (2.). Göttingen: Hogrefe.
Freyberger, H. J. & Stieglitz, R.-D. (2019). Dissoziative Störungen. In M. Berger (Hrsg.), Psychische Erkrankungen: Klinik und Therapie (6., S. 533–540). München: Elsevier.
Frommberger, U., Nyberg, E., Angenendt, J., Lieb, K. & Berger, M. (2019). Posttraumatische Belastungsstörungen. In M. Berger (Hrsg.), Psychische Erkrankungen: Klinik und Therapie (6., S. 500–523). München: Elsevier.
Kring, A. M., Johnson, S. L. & Hautzinger, M. (2019). Klinische Psychologie (9.). Weinheim; Basel: Beltz.
Beitragsbild
kieferpix. (2019). Traurige Frau wird glücklich und frei. iStock. Verfügbar unter: https://www.istockphoto.com/de/foto/traurige-frau-wird-glücklich-und-frei-gm1188704402-336293940