Spätestens mit dem Führerschein ist er Pflicht: der Erste-Hilfe-Kurs. Er bereitet auf den körperlichen Notfall vor – etwa, wenn das Gegenüber nicht mehr atmet oder schwer verletzt ist.
Aber was ist bei Panikattacken, traumatischen Erlebnissen oder Suizidgedanken? Was tun, wenn jemand weint, apathisch wirkt oder Stimmen hört? Der Umgang mit psychischen Krisensituationen gehört nicht zum Standardrepertoire eines klassischen Kurses.
Das Programm „Mental Health First Aid“, kurz MHFA, soll Abhilfe schaffen – mit Erste-Hilfe-Kursen zur psychischen Gesundheit. MHFA wurde in Australien entwickelt und steht mittlerweile in 24 Ländern zur Verfügung. Seit Herbst 2020 werden auch in Deutschland Kurse angeboten.[1]
Psychische Störungen: weit verbreitet und stigmatisiert
Innerhalb eines Jahres sind in Deutschland etwa 27,8 % der Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren von mindestens einer psychischen Störung betroffen. Nach Angststörungen (15,3 %) zählen dabei unipolare Depressionen (7,7 %) und Störungen durch übermäßigen Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 %) zu den häufigsten Krankheitsbildern.[2]
Immer noch sind psychisch kranke Menschen mit Vorurteilen und Stigmatisierung konfrontiert. So glaubt einer Umfrage zufolge jeder Fünfte, dass „Zusammenreißen“ gegen Depressionen hilft.[3] Und fast ein Drittel von rund 3.600 Befragten will einer Studie zufolge nicht mit Menschen zusammenarbeiten, die an Schizophrenie erkrankt sind.[4] Solche Vorurteile können zum Beispiel die Suizidgefahr der Betroffenen erhöhen.[5]
Was ist MHFA?
Das gemeinnützige Programm MHFA wurde im Jahr 2000 vom Psychologen Tony Yorm und der Krankenschwester Betty Kitchener ins Leben gerufen. Ziel des Ehepaars war, ein psychologisches Erste-Hilfe-Programm aufbauen – analog zu den auf körperliche Beschwerden fokussierten Kursen.[6]
Kursteilnehmende lernen, psychische Krisensituationen zu erkennen und entsprechend zu handeln.[7] Nach Angaben von Mental Health First Aid Australia haben bereits über vier Millionen Menschen einen MHFA-Kurs absolviert.[8]
Die deutsche Version des Programms heißt MHFA Ersthelfer. Sie wurde am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit mit Unterstützung der Dietmar Hopp Stiftung GmbH entwickelt. Seit 2020 ist die Beisheim Stiftung daran beteiligt.[9]
Inhalte: Was erwartet mich im MHFA-Kurs?
Wer einen MHFA-Kurs besucht, lernt zunächst, Anzeichen psychischer Störungen/Notsituationen zu erkennen – etwa Panikattacken, Depressionen oder Suchterkrankungen. Auch erhalten die Teilnehmenden einen Überblick darüber, wie solche Störungen entstehen und sich behandeln lassen. Zudem lernen sie unabhängig von Krisensituationen, psychische Probleme anzusprechen.[10]
Nach der Theorie wird es konkreter: Die Kursleiter*innen vermitteln, welche Erste-Hilfe-Maßnahmen bei einem psychischen Problem oder in einer Krise geeignet sind. Das Gelernte setzen die Teilnehmenden in die Praxis um, etwa anhand von Gruppenübungen und Rollenspielen.[11]
Zielgruppe, Dauer, Kosten: Wer kann teilnehmen – und wie?
Grundsätzlich kann jeder ab 18 Jahren an einem MHFA-Kurs teilnehmen. Vorkenntnisse oder Erfahrungen im Umgang mit psychischen Störungen sind nicht notwendig. In den Kursen werden sensible Themen wie Suizid angesprochen. Personen, die ein akutes psychisches Problem haben, wird daher empfohlen, lieber zu einem späteren Zeitpunkt teilzunehmen.[12]
Die Teilnahme ist in Deutschland online oder in Form von Präsenzunterricht möglich. Online-Kurse bestehen aus sechs Modulen, die jeweils zwei Stunden dauern. Präsenzkurse beinhalten vier Module à drei Stunden. Am Ende des Kurses können die Teilnehmenden eine Prüfung ablegen und ein Zertifikat bekommen. Zudem erhalten sie ein Handbuch, in welchem die Erste-Hilfe-Maßnahmen beschrieben sind.[13]
Wie auch Erste-Hilfe-Kurse zur körperlichen Gesundheit sind MHFA-Kurse kostenpflichtig. Der Preis ist vom jeweiligen Schulungszentrum abhängig. Als Richtpreis gilt ein Betrag von 198 Euro.[14]
(Wie gut) wirkt MHFA?
Nach Angaben der Organisator*innen fußt MHFA auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.[15] Zu deutschsprachigen MHFA-Programmen führt das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim derzeit eine Studie durch.[16]
Mittlerweile gibt es einige unabhängige Studien zu MHFA. In einer Meta-Analyse kommt das Team um Gergö Hadlaczky zu dem Ergebnis, dass MHFA das Wissen über psychische Gesundheit erhöht und Vorbehalte gegenüber psychisch erkrankten Personen verringert. Teilnehmende trauen sich nach einem Kurs zudem eher zu, auf psychisch labile Menschen zuzugehen.[17]
Eine andere Übersichtsarbeit konnte ebenfalls leichte bis mäßige positive Effekte nachweisen, die mindestens sechs Monate nach den Kursen noch anhielten. Teilnehmende hatten ihr Wissen ausgebaut, zeigten weniger Vorbehalte und fühlten sich eher in der Lage zu helfen. Inwieweit die Wirkung auch nach zwölf Monaten noch anhielt, blieb nach Angaben der Forschenden hingegen unklar.[18]
Fazit
Psychische Gesundheit wird bis heute stiefmütterlich behandelt. Fatal – denn psychische Störungen können mit erheblichem Leidensdruck verbunden sein und mitunter tödlich enden. Angesichts der Verbreitung psychischer Störungen und deren gesellschaftlicher Stigmatisierung ist Aufklärung dringend nötig. Erste-Hilfe-Kurse zur psychischen Gesundheit sind dazu ein wichtiger Schritt. Nach Meinung der Autorin sollten sie ebenso etabliert sein wie ihre körperlich ausgerichteten Pendants.
MHFA-Kurse sind bislang deutlich teurer als klassische Kurse, die mit rund 40 bis 50 Euro zu Buche schlagen. Ein Erste-Hilfe-Kurs beim DRK Köln kostet zum Beispiel 45 Euro.[19] Der Preis eines MHFA-Kurses könnte manche(n) Interessierte(n) abschrecken. Es ist zu hoffen, dass mit wachsender Nachfrage auch die Preise sinken.
MHFA kann einer psychischen Störung weder vorbeugen noch eine professionelle Behandlung ersetzen. Aber sie leistet einen essenziellen Beitrag auf einer anderen Ebene: Es geht darum, zu unterstützen, bis psychologische Hilfe da ist. Eine Person zu überzeugen, überhaupt Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vorbehalte abzubauen, zu ermutigen und zu trösten. Oder darum, „einfach nur da“ zu sein.
Linktipps:
[1] Vgl. MHFA Ersthelfer (2022a); vgl. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (2020).
[2] Vgl. Jacobi et al. (2014), S. 81; vgl. Jacobi et al. (2016).
[3] Vgl. Stiftung Deutsche Depressionshilfe (2017).
[4] Vgl. Angermeyer et al. (2013).
[5] Vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (2022); vgl. Oexle/Rüsch (2018).
[6] Vgl. Mental Health First Aid Australia (2021c); vgl. MHFA Ersthelfer (2022a).
[7] Vgl. MHFA Ersthelfer (2022a).
[8] Vgl. Mental Health First Aid Australia (2021c).
[9] Vgl. MHFA Ersthelfer (2022a).
[10] Vgl. MHFA Ersthelfer (2022a).
[11] Vgl. MHFA Ersthelfer (2022a).
[12] Vgl. MHFA Ersthelfer (2022a).
[13] Vgl. MHFA Ersthelfer (2022a).
[14] Vgl. MHFA Ersthelfer (2022a).
[15] Vgl. Mental Health First Aid Australia (2021a).
[16] Vgl. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (2022).
[17] Vgl. Hadlaczky et al. (2014).
[18] Vgl. Morgan et al. (2018).
[19] Vgl. Deutsches Rotes Kreuz Kreisverband Köln e.V. (2022).
Literaturverzeichnis
Angermeyer, M. C./Matschinger, H./Schomerus, G. (2013), Attitudes towards psychiatric treatment and people with mental illness: changes over two decades, The British journal of psychiatry : the journal of mental science, 203. Jg., Nr. 2, S. 146-151.
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (2022), Für Akzeptanz – gegen Ausgrenzung, in: https://www.dgppn.de/schwerpunkte/stigma.html, abgerufen am 9.1.2022.
Deutsches Rotes Kreuz Kreisverband Köln e. V. (2022), Erste Hilfe Grundkurse für Bevölkerung und Betriebshelfer/innen, in: https://www.drk-koeln.de/kurse/erste-hilfe-kurse/erste-hilfe-ausbildung.html, abgerufen am 9.1.2022.
Hadlaczky, G./Hökby, S./Mkrtchian, A./Carli, V./Wasserman, D. (2014), Mental Health First Aid is an effective public health intervention for improving knowledge, attitudes, and behaviour: a meta-analysis, International review of psychiatry (Abingdon, England), 26. Jg., Nr. 4, S. 467-475.
Jacobi, F./Höfler, M./Strehle, J./Mack, S./Gerschler, A./Scholl, L./Busch, M. A./Maske, U./Hapke, U./Gaebel, W./Maier, W./Wagner, M./Zielasek, J./Wittchen, H.-U. (2014), Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung : Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH), Der Nervenarzt, 85. Jg., Nr. 1, S. 77-87.
Jacobi, F./Höfler, M./Strehle, J./Mack, S./Gerschler, A./Scholl, L./Busch, M. A./Maske, U./Hapke, U./Gaebel, W./Maier, W./Wagner, M./Zielasek, J./Wittchen, H.-U. (2016), Erratum zu: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul „Psychische Gesundheit“ (DEGS1-MH), Der Nervenarzt, 87. Jg., Nr. 1, S. 88-90.
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Mental Health First Aid Australia (2021b), Mental Health First Aid Guidelines, in: https://mhfa.com.au/mental-health-first-aid-guidelines, abgerufen am 8.1.2022.
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MHFA Ersthelfer (2022a), Fragen und Antworten, in: https://www.mhfa-ersthelfer.de/de/was-ist-mhfa/faq/, abgerufen am 7.1.2022.
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Morgan, A. J./Ross, A./Reavley, N. J. (2018), Systematic review and meta-analysis of Mental Health First Aid training: Effects on knowledge, stigma, and helping behaviour, PloS one, 13. Jg., Nr. 5, e0197102.
Oexle, N./Rüsch, N. (2018), Stigma – Risikofaktor und Konsequenz suizidalen Verhaltens : Implikationen für die Suizidprävention, Der Nervenarzt, 89. Jg., Nr. 7, S. 779-783.
Statistisches Bundesamt (2021), Todesursachen: Suizide, in: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/suizide.html, abgerufen am 7.1.2022.
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Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (2020), Ersthelfer-Kurse für psychische Gesundheit gestartet, in: https://www.zi-mannheim.de/institut/news-detail/ersthelfer-kurse-fuer-psychische-gesundheit-gestartet.html, abgerufen am 8.1.2022.
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (2022), Public Mental Health – aktuelle Studien, in: https://www.zi-mannheim.de/forschung/abteilungen-ags-institute/public-mental-health/infos-pmh.html/, abgerufen am 7.1.2022.
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