Der Terminus Misophonie ist vergleichsweise jung. Er bezeichnet eine spezifische Ausprägung von Geräuschempfindlichkeit. Individuen, die an Misophonie leiden, reagieren nach dem Hören von bestimmten Auslösegeräuschen, zumeist Essensgeräusche, mit Zorn, Abscheu, impulsive Handlungen und Frustration. Diese Reaktionen können von erhöhtem Herzschlag, Schweißausbrüchen, Veränderungen im Blutdruck bis hin zu Atembeschwerden begleitet sein (Goebel, 2023, S. 34).
Die Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen kann in verschiedenen Ausprägungen auftreten und erfordert nicht zwangsläufig sofortige Maßnahmen oder Behandlungen. Bei einigen Betroffenen ist der Leidensdruck jedoch so stark, dass sie stark unter Geräuschen leiden, die trotz niedriger Dezibelwerte teilweise als quälend empfunden werden. Dies kann dazu führen, dass sie sich aus dem täglichen Leben zurückziehen und sich vor sozialer Isolation fürchten (Goebel, 2023a, S. 16). Die Auswirkungen umfassen Konzentrationsstörungen, Schlafprobleme, soziale Ängste, ein vermindertes Selbstwertgefühl, berufliche Schwierigkeiten aufgrund des Vermeidungsverhaltens, depressive Verstimmungen und Sorgen über die Zukunft. Ein charakteristisches Merkmal ist, dass Betroffene belastende Situationen im Alltag meiden und auf ruhige oder ungestörte Umgebungen ausweichen. (Goebel, 2023a, S. 17).
Misophonie ist keine offiziell anerkannte medizinische Störung und ihre Definition ist unklar. Sie ist wenig erforscht und daher schwer einzuordnen, was zu kontroversen Diskussionen führt. Aus medizinischer Sicht wird sie als Teil der Geräuschüberempfindlichkeit betrachtet und weist Ähnlichkeiten mit Hyperakusis (allgemeine Geräuschunverträglichkeit) und Phonophobie (Angst vor bestimmten Geräuschen) auf (Schubert & Zillien, 2023, S. 894-895).
Eine Untersuchung aus dem Jahr 2017 hat mittels funktioneller und struktureller MRT in Verbindung mit physiologischen Messungen gezeigt, dass Personen mit Misophonie spezifische Reaktionen im Gehirn und im Körper auf Schallreize zeigen. Insbesondere zeigte die fMRT, dass bei misophonen Personen bestimmte Geräusche stark übertriebene Reaktionen im anterioren Insulacortex (AIC) auslösen. Der AIC ist ein zentraler Knotenpunkt im Salienznetzwerk, das für die Wahrnehmung körperlicher Signale und die Emotionsverarbeitung wichtig ist. Bei misophonen Personen waren diese Geräusche mit abnormer funktioneller Verbindung zwischen dem AIC und einem Netzwerk von Regionen verbunden, die für Emotionsverarbeitung verantwortlich sind, einschließlich des ventromedialen präfrontalen Cortex, des posteriomedialen Cortex, des Hippocampus und der Amygdala. Auslösegeräusche führten bei misophonen Personen zu einer erhöhten Herzfrequenz und einer verstärkten Hautleitfähigkeitsreaktion, die durch die Aktivität des AIC vermittelt wurden (Kumar et al., 2017).
Eine standardisierte Behandlung für Misophonie ist bisher nicht etabliert. Die Therapie beginnt mit der Identifizierung der Misophonie, was für Betroffene ein wichtiger erster Schritt zur Bewältigung sein kann. Im Allgemeinen basiert die Behandlung auf einer vielseitigen Herangehensweise, die Informationen über die besondere Geräuschüberempfindlichkeit, mögliche Ursachen sowie Bewältigungsstrategien und Alltagsanpassungen umfasst. Es gibt derzeit keine spezifischen Medikamente zur Behandlung von Misophonie, aber eine medikamentöse Behandlung kann bei gleichzeitig bestehenden psychischen Störungen helfen, Misophoniereaktionen zu reduzieren (Schwemmle & Arens, 2022, S. 9).
Eine Studie aus dem Jahr 2015 untersuchte die Zusammenhänge der physischen Reaktion auf die Störgeäusche, um Behandlungsmethoden zu eruieren. Die Untersuchung von Misophonie als konditionierte körperliche Reflexreaktion konnte zeigen, dass wenn der Reflex eliminiert wird, auch die emotionale Reaktion gemindert wird. Die Implikation dieser Konzeptualisierung von Misophonie ist, dass der Auslösestimulus eine konditionierte körperliche Reflexreaktion hervorruft und die konditionierte körperliche Reflexreaktion die emotionale Reaktion auslöst. Daher könnten die misophonen Emotionen das Ergebnis eines physischen „Angriffs“ sein, der von der körperlichen Reflexreaktion ausgeht (Dozier, 2015, S. 385 – 386). Weitere Forschungsergebnisse zur Behandlung von Misophonie und kamen zu dem Schluss, dass eine Gruppentherapie basierend auf kognitiver Verhaltenstherapie in Verbindung mit Übungen zur Fokussierung auf Aufgaben, positiver Affektverstärkung, Manipulation von Reizen und Techniken zur Stressreduktion als die bisher effektivste Behandlung zur Linderung der Misophonie-Symptome angesehen werden kann (Goebel, 2023, S. 34).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bis heute die genauen Ursachen von Misophonie unklar sind, es keine standardisierte Diagnose und keine bekannte evidenzbasierte Therapie gibt. Es ist jedoch wichtig, eine psychiatrische Bewertung sowie eine Beratung durch einen Hals-Nasen-Ohren-Ärztin über mögliche Behandlungsoptionen einzuleiten. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass sich Misophonie von selbst verbessert, wenn ein passiver Ansatz verfolgt wird (Schwemmle & Arens, 2022, S. 10).
Quellen:
- Dozier, T. H. (2015). Counterconditioning Treatment for Misophonia. Clinical Case Studies Vol. 14(5), 374–387.
- Goebel, G. (2023a). Definition und Diagnostik der Misophonie. HNO-NACHRICHTEN 53 (3), 16-24.
- Goebel, G. (2023). Management der Misophonie. HNO NACHRICHTEN 53 (4), 34 – 35.
- Kumar, S., Tansley-Hancock, O., Sedley, W., Winston, J. S., Callaghan, M. F., Allen, M., . . . Griffiths, T. D. (2017). The Brain Basis for Misophonia. Current Biology (27), 527–533.
- Schubert, C., & Zillien, N. (2023). Making Up Misophonic People. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (53), 893–914. Schwemmle, C., & Arens, C. (2022). „Wut im Ohr“: Misophonie. HNO (70), 3 – 13.
Bildquelle:
Fotograf*in Lee Murry
https://pixabay.com/de/photos/mann-h%C3%B6re-nichts-b%C3%B6ses-7151602