By Published On: 19. Juli 2024Categories: Psychologie

„Ich arbeite besser unter Druck.“ „Ich weiß, ich sollte das jetzt tun, aber ich kann mich einfach nicht dazu bringen.“ „Ich habe zu viel zu tun, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“ „Ich werde das morgen definitiv erledigen.“ „Ich bin so faul, warum schaffe ich nichts?“

Diese und ähnliche Aussagen sind mehr als nur flüchtige Gedanken oder humorvolle alltägliche Ausreden. Sie spiegeln ein weitverbreitetes Verhaltensmuster wider: die Prokrastination. Diese Neigung, wichtige Aufgaben immer wieder aufzuschieben, betrifft viele Menschen und kann weitreichende Folgen haben. Oscar Wilde brachte es mit seiner typischen Ironie treffend auf den Punkt: „Ich verschiebe niemals auf morgen, was sich auch auf übermorgen verschieben lässt“ (Wehrle, 2022). Dies zeigt, dass Prokrastination, oft umgangssprachlich als „Aufschieberitis“ bezeichnet (Fydrich, 2009, S. 318), weit mehr als ein simples Zeitmanagementproblem ist. In unserer hektischen und schnelllebigen Welt gewinnt dieses allgegenwärtige Phänomen zunehmend an Bedeutung und erfordert ein tieferes Verständnis seiner Ursachen und Auswirkungen.

Was ist Prokrastination?

Das lateinische Wort „procrastinare“ bedeutet, etwas aufzuschieben oder zu vertagen. Auch das Zögern bei Entscheidungen oder das Vermeiden klarer Zusagen und Absagen sind Verhaltensweisen, die unter Prokrastination fallen (Fydrich, 2009, S. 318). Im Gegensatz zum weit verbreiteten gelegentlichen Aufschieben, das vielen aus dem Alltag bekannt ist, wie z.B. bei Unordnung im Haushalt, bezeichnet Prokrastination eine ernsthafte Störung der Selbststeuerung. Dabei werden wichtige Aufgaben oder Tätigkeiten wiederholt und übermäßig auf einen späteren Zeitpunkt verschoben (Engberding, Höcker & Rist, 2017, S. 417).

Prokrastination bedeutet ein qualvolles Hinauszögern wichtiger Arbeiten, oft begleitet von Ablenkungen und trotz absehbarer klarer Nachteile. Der Begriff beschreibt das Verhalten, geplante Tätigkeiten freiwillig und bewusst zu verzögern, obwohl genügend Zeit vorhanden war und trotz der Erwartung, dass dies die Qualität der Ergebnisse verschlechtern bzw. negative Konsequenzen haben könnte. Ein typisches Beispiel, das viele aus eigener Erfahrung kennen, ist das Verhalten von Schüler:innen und Student:innen, die ihre Prüfungsvorbereitungen und das Schreiben von Hausarbeiten oft bis auf die letzte Minute hinauszögern, auch auf die Gefahr hin, dadurch unter Zeitdruck zu geraten und schlechtere Noten zu riskieren (Engberding et al., 2017, S. 417-418; Fydrich, 2009, S. 318; Gusy, Jochmann, Lesener, Wolter & Blaszcyk,2023, S. 228; Steel, 2007).

Prokrastination: Kreativitätsförderer oder Produktivitätskiller?

Abbildung 1: Prokrastination als Produktivitätskiller

Prokrastination ist ein zweischneidiges Schwert. Während einige Experten sie als klare Barriere für Produktivität und Erfolg betrachten (Steel, 2007), sehen andere darin eine Quelle für kreative Prozesse und tiefere Denkvorgänge (Grant, 2016). Dr. Adam Grant, ein angesehener Organisationspsychologe, argumentiert, dass Prokrastination Raum für innovative Lösungen schaffen kann. Er meint, dass das bewusste Aufschieben Zeit für Reflexion bietet und kreative Einfälle fördert – ein Konzept, das auch durch das Beispiel von Steve Jobs unterstützt wird (Isaacson, 2011).

Doch Prokrastination hat auch ihre Schattenseiten. Studien von Sirois (2014) und Steel (2007) zeigen, dass chronisches Aufschieben zu Stress, Angstzuständen und einem geringeren Wohlbefinden führen kann. Schätzungen zufolge prokrastinieren etwa 20–30% der Erwachsenen chronisch (Ferrari, Díaz-Morales, O’Callaghan, Díaz & Argumedo, 2007; Ferrari, O’Callaghan & Newbegin, 2005; Harriott & Ferrari, 1996). Ähnlich geht es auch den Studierenden (Day, Mensink & O’Sullivan, 2000).

Abbildung 2: Stress und Angstzustände von Prokrastination
(Bild 1 links, Bild 2 mittig, Bild 3 rechts)

Folgen von chronischer Prokrastination

Das ständige Verschieben von Aufgaben bis kurz vor der Deadline führt oft nicht nur zu einer gehetzten und stressreichen Aufgabenerledigung, sondern auch zu Ärger und anhaltender Unzufriedenheit. Dies kann Schuldgefühle und ein Gefühl der Reue auslösen, die berufliche Entwicklung hemmen und Konflikte in zwischenmenschlichen Beziehungen hervorrufen. Darüber hinaus können tiefgreifende Gefühle der Inkompetenz und Minderwertigkeit entstehen, wie Scham und Unzulänglichkeit, die mit einem negativen Selbstbild verbunden sind (Engberding et al., 2017, S. 417).

Vielfach wurde nachgewiesen, dass Prokrastination nicht nur zu Leistungsverlusten führt (Kim & Seo, 2015), sondern auch mit gesundheitlichen Problemen einhergeht. Dazu gehören Stress (Khalid, Zhang, Wang, Ghaffari & Pan, 2019), körperliche Beschwerden (Sirois, 2007), depressive Verstimmungen und Angstzustände (Reinecke, Meier, Aufenanger, Beutel, Dreier, Quiring, Stark, Wölfling & Müller, 2018). Prokrastination führt oft auch zu schlechten Gewohnheiten wie Schlafstörungen (Gusy et al., 2023, S. 232-233; Kroese, De Ridder, Evers & Adriaanse, 2014) und erhöhtem Alkoholkonsum (Westgate, Wormington, Oleson & Lindgren, 2017).

Abbildung 3: Folgen von Prokrastination
(Bild 1 links oben, Bild 2 rechts oben, Bild 3 unten)

Symptom oder Störung?

Viele Menschen stellen sich wahrscheinlich die Frage, ob chronisches Aufschieben nur ein Symptom anderer psychischer Störungen wie das bekannte Gefühl der Trägheit bei einer Depression oder ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätssyndrom) ist oder, ob es eine eigene Krankheit darstellt. Prokrastination ist zwar ein häufiges Problem, wird aber nicht als psychische Störung im Sinne der Klassifikationssysteme International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) oder Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) anerkannt. Studien zeigen jedoch, dass sie zwar Ähnlichkeiten mit diesen Störungen hat, aber nicht identisch ist (Rist, Pedersen, Höcker & Engberding, 2011).

An der Universität Münster gibt es eine Spezialambulanz für Prokrastination, die offenlegt, dass etwa 15% der Studierenden ernsthaft prokrastinieren, während nur 2% überhaupt nicht aufschieben. Dies führt zu schlechteren akademischen Leistungen, verlängerten Studienzeiten und einem höheren Risiko für körperliche und psychische Probleme wie Depressionen (Deters, 2006). Prokrastination wird oft mit Versagensangst und der Angst vor negativer Bewertung in Verbindung gebracht (Opitz 2004; Patzelt 2004). 

Um klare Diagnosekriterien zu entwickeln, wurde eine Querschnittsstudie mit 10.000 zufällig ausgewählten Teilnehmenden durchgeführt, die acht wesentliche Kriterien für Prokrastination identifizierte. Das überraschende Ergebnis: Selbst mit strengen Maßstäben wurde eine beachtliche Prokrastinationsrate von etwa 10% festgestellt, was die weite Verbreitung des Phänomens unterstreicht (Höcker, Engberding & Rist, 2017a; Engberding et al., 2017, S. 418; Wolf, 2011).

Was können wir mitnehmen?

Zum Abschluss sei gesagt: Du bist nicht allein. Prokrastination ist weiter verbreitet als oft angenommen. Angesichts dieser weit verbreiteten Neigung ist eine sorgfältige Diagnose bei Schwierigkeiten der Selbstregulation unerlässlich. Das Interventionskonzept der Prokrastinationsambulanz in Münster hat gezeigt, dass man Selbstregulationsfähigkeiten erfolgreich stärken kann, sei es unter therapeutischer Begleitung oder durch selbstgeleitete, ratgebergestützte Programme (Engberding et al., 2017, S. 421).

https://ww3.unipark.de/uc/Selbsttest_Prokrastination_23/

Tipps und Tricks gegen Prokrastination

Abbildung 4: Positive Selbstüberzeugung – Überwindung von Prokrastination

Im Folgenden sind hier einige Tipps aufgeführt, was du persönlich gegen das Aufschieben tun kannst (Wessels, 2023):

Wähle eine bestimmte Aufgabe aus, die du häufig aufschiebst.

Beobachte dich selbst sorgfältig über einige Tage hinweg. Finde heraus, unter welchen Umständen du die Aufgabe vermeidest und wann du dich ihr widmest.

Teile die Aufgabe in kleinere und konkrete Schritte auf, die als nächstes erledigt werden müssen.

Bestimme für jeden Tag einen exakten Zeitpunkt, eine klare Dauer und einen bestimmten Ort, an dem du diesen nächsten Schritt erledigen wirst.

Stelle sicher, dass du dir von Anfang an nicht mehr vornimmst, als du tatsächlich bewältigen kannst.

Erschaffe Erinnerungshilfen, um sicherzustellen, dass diese Gelegenheit nicht übersehen wird. Bereite dich innerlich und äußerlich bereits einige Minuten im Voraus auf die Aufgabe vor, indem du beispielsweise einen Wecker stellst oder einen Erinnerungszettel bereitlegst.

Nachdem du die Aufgabe erledigt hast, reflektiere darüber, wie gut es gelaufen ist und welche Herausforderungen du hattest.

Vergiss nicht, dich selbst auch für kleine Erfolge zu belohnen.

Abbildungsverzeichnis

Titelbild: Bild von Gerd Altmann (Nutzername: „geralt“) (2016). In Pixabay. Zugriff am 07.07.2024. Verfügbar unter https://pixabay.com/illustrations/place-name-sign-board-now-later-1865304/

Abbildung 1: Bild von cottonbro studio (2020). In Pexels. Zugriff am 07.07.2024. Verfügbar unter https://www.pexels.com/de-de/foto/schreibtisch-schule-gesichtslos-student-4769486/

Abbildung 2: Stress und Angstzustände von Prokrastination

Abbildung 3: Folgen von Prokrastination

Abbildung 4: Bild von Prateek Katyal (2019). In Pexels. Zuriff am 07.07.2024. Verfügbar unter https://www.pexels.com/de-de/foto/schwarzweiss-laptop-2740956/

Literaturverzeichnis

Day, V., Mensink, D., & O’Sullivan, M. (2000). Patterns of Academic Procrastination. Journal of College Reading and Learning30(2), 120-134.  doi:10.1080/10790195.2000.10850090

Deters, B. (2006). Prokrastination bei Studierenden – Zusammenhänge mit Depressivität und ADHS im Erwachsenenalter. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Westfälische Wilhelms-Universität Münster.

Engberding, M., Höcker, A. & Rist, F. (2017). Prokrastination. Psychotherapeut 62, 417–421. doi:10.1007/s00278-017-0219-3

Ferrari, J. R., Díaz-Morales, J. F., O’Callaghan, J., Díaz, K., & Argumedo, D. (2007). Frequent Behavioral Delay Tendencies By Adults: International Prevalence Rates of Chronic Procrastination. Journal of Cross-Cultural Psychology, 38(4), 458-464. doi:10.1177/0022022107302314

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Fydrich, T. (2009). Arbeitsstörungen und Prokrastination. Psychotherapeut 5(54), 318–325. doi:10.1007/s00278-009-0696-0

Grant, A. (2016). Originals: How Non-Conformists Move the World. New York: Viking

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Harriott, J., & Ferrari, J. R. (1996). Prevalence of Procrastination among Samples of Adults. Psychological Reports78(2), 611-616. doi:10.2466/pr0.1996.78.2.611 

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Isaacson, W. (2011). Steve Jobs by Walter Isaacson. Simon & Schuster.

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Kroese, F. M., De Ridder, D. T., Evers, C., & Adriaanse, M. A. (2014). Bedtime procrastination: introducing a new area of procrastination. Frontiers in Psychology5, 611. doi:10.3389/fpsyg.2014.00611 

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Patzelt, J. (2004). Arbeitsstörungen bei Studierenden – Aufschieben, Perfektionismus und Alltagsfehler. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Westfälische Wilhelms-Universität Münster.

Reinecke, L., Meier, A., Aufenanger, S., Beutel, M. E., Dreier, M., Quiring, O., Stark, B., Wölfling, K., & Müller, K. W. (2018). Permanently online and permanently procrastinating? The mediating role of Internet use for the effects of trait procrastination on psychological health and well-being. New Media & Society, 20(3), 862-880. doi:10.1177/1461444816675437

Rist, F., Pedersen, A., Höcker, A., & Engberding, M. (2011). Pathologisches Aufschieben und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. PiD-Psychotherapie im Dialog12(3), 217-220. doi:10.1055/s-0031-1276879 

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Sirois, F. M. (2014). Procrastination and stress: Exploring the role of self-compassion. Self and Identity, 13(2), 128-145. doi:10.1080/15298868.2013.763404 

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Wessels, J. (2023). Psychotherapie-Ambulanz Universität Münster/Prokrastinationsambulanz. Zugriff am 24.01.2024. Verfügbar unter https://www.uni-muenster.de/Prokrastinationsambulanz/

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Wolf, J. (2011). Prokrastination: Ableitung einer Falldefinition. Unveröffentlichte Diplomarbeit, WestfälischeWilhelms-Universität Münster.

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