Nebelkinder. Den Begriff habe ich über ein Buch von Stefanie Gregg kennengelernt. Es handelt von der Frage, inwieweit Traumata an die Kinder und Enkel vererbt werden können und bezieht sich in diesem Fall auf die Generation des Zweiten Weltkrieges. Meine Großeltern konnten über ihre Erlebnisse des Krieges, der Vertreibung kaum sprechen und übertrugen an die nächste Generation eine widersprüchlich erscheinende Last des Glücklichseins: „Und alle Hoffnung lag auf ihr (…), die doch ohne all diese Erlebnisse aufwachsen konnte, endlich. Die doch glücklich sein musste (…). Diese Last auf ihren kleinen Schultern, für alle diese Menschen mit glücklich zu sein. Das war zu viel. Viel zu viel. Das war die Traurigkeit in ihr. Die Traurigkeit, die nicht sein konnte, sein durfte, und doch war.“[1]
Vor dem Hintergrund einer steigenden Anzahl traumatisierter Kriegsflüchtlinge und Migranten ist die Frage nach einer transgenerationellen Weitergabe von Traumata auch heute besonders relevant. In diesem Beitrag werden folgende Fragestellungen betrachtet: Was bedeutet die Bezeichnung Nebelkinder in der Psychologie? Sind Traumata auf die Nachkommen vererbbar und welche therapeutischen Maßnahmen können die Auswirkungen von traumatischen Erfahrungen auf die nachfolgenden Generationen verringern?
Nebelkinder
Kinder von Überlebenden traumatischer Ereignisse werden als Nebelkinder bezeichnet, da die Erfahrungen ihrer Vorfahren sich wie ein Nebel auf ihr Leben legt und Einfluss nimmt, auch wenn sie die Ereignisse selbst nicht erlebt haben. „Sie stochern im Nebel des Nichtgesagten, des Verschwiegenen, in all dem Nichterzählten.“[2] Die Kinder nachfolgender Generationen können ein erhebliches Maß an Stress, Angst und anderen psychischen Belastungen erleben, die mit den Erfahrungen der Eltern und Großeltern verbunden sind. Studien haben gezeigt, dass nachfolgende Generationen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Depressionen, Angstzustände und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) besitzen.[3] Wie werden Traumata an nachfolgende Generationen weitergegeben?
Transgenerationelle Weitergabe von Trauma
Traumata sind Ereignisse, die „mit drohendem Tod der eigenen oder anderer Personen, erleben vom Tod anderer oder Bedrohung der eigenen physischen Integrität einhergehen“.[4] Aus psychologischer Sicht kann ein Trauma an die nachfolgende Generation weitergegeben werden, wobei dies durch ganz unterschiedliche Faktoren bedingt sein kann. Sozialpsychologische Modelle betrachten die Weitergabe von Traumata über soziales Lernen und Erziehungsstile. Psychoanalytische Modelle untersuchen eine Weitergabe innerhalb interpersoneller Beziehungen über unbewusste oder unterdrückten Erfahrungen. Familiensystemische Modelle beschreiben eine Weitergabe über Bindung und Kommunikation und biologische Modelle betrachten epigenetische Veränderungen in Physiologie und Gehirnstrukturen.[5] Mit den letzteren beschäftigt sich die Epigenetik, die der Frage der Vererbbarkeit von Traumata nachgeht.
Sind epigenetische Veränderungen durch Traumata möglich?
Epigenetik heißt der Vorgang, wenn die erworbene Eigenschaft der Eltern beim Nachwuchs zu einer angeborenen wird. Grundlage sind chemische Veränderungen an der DNA, die eine Modifikation hervorrufen. Dieser Prozess wird als DNA-Methylierung bezeichnet. Untersuchungen an eineiigen Zwillingspaaren haben gezeigt, dass wenn ein Zwilling unter einer Panikstörung leidet, das Risiko für seinen genetisch identischen Geschwister ebenfalls daran zu erkranken, stark erhöht ist.[6] Der Max-Planck-Forscher Nicola Iovino verweist auf wissenschaftliche Studien, die auffällige Korrelationen zwischen der Nahrungsmittelversorgung von Großvätern und einem erhöhten Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei deren Enkeln zeigen. Er untersuchte an Fruchtfliegen, wie epigenetische Veränderungen von der Mutter an den Embryo übertragen werden und konnte verdeutlichen, dass das epigenetische Gedächtnis der Mutter für die Entwicklung und das Überleben der neuen Generation wesentlich ist.[7] Erstmals wurde somit wissenschaftlich bewiesen, dass epigenetische Veränderungen über Spermien und Eizellen an die nächste Generation weitergegeben werden können. Dies lässt eine Übertragung dieser Prozesse auf Menschen nahe liegend erscheinen, wobei dies wissenschaftlich noch nicht endgültig bewiesen ist.
Bedeutung für psychotherapeutische Ansätze
Stephen Stahl, Professor für Psychiatrie an der University of California, bezeichnet die Psychotherapie als epigenetisches Medikament, da sie das neuronale Netz des Nervensystems auf ähnliche Weise wie Medikamente verändern oder ergänzen kann. Insofern kann emotionale Arbeit einen tiefgreifenden Einfluss auf die nachfolgenden Generationen bewirken.[8]
Für therapeutische Ansätze, die transgenerationelle Traumata betrachten, braucht es Menschen mit einem psycho-historischen Wissen und die Weiterentwicklung von bereits vorhandener Modelle wie z.B. der Biographiearbeit. Die Komplexität der Traumatherapie erhöht sich durch Fragen der transgenerationellen Traumafolgen erheblich, so dass sich eine Entwicklung einer epigenetisch informierten Psychotherapie anbietet.[9] Vor dem Hintergrund der steigenden Migrationsbewegungen durch Klimawandel und Kriege nimmt darüber hinaus die ethnisch-kulturelle Dimension in der Beziehung Therapeut und Klient eine bedeutende Rolle ein, die bei der Entwicklung therapeutischer Ansätze mitbetrachtet werden muss.
Fazit und Ausblick
Ob Traumata der Großeltern bei den Enkeln in den Genen zu Veränderungen führen, ist wissenschaftlich noch nicht belegt. Auch wenn es viele Korrelationsstudien gibt, ist die Kausalität noch nicht zwingend erwiesen. Dennoch legen die aktuellen Forschungsergebnisse nahe, dass die nachfolgenden Generationen mehr als nur die Gene von den Eltern erben. „Die Konsequenzen dieser neuen Forschungsrichtung sind bi-direktional: Wir erkennen, dass ein Trauma auf die folgenden Generationen übertragen werden kann, auch, dass im Gegenzug psychologische Arbeit in der Lage ist, die biologischen Auswirkungen des Traumas umzuwandeln und zu modifizieren.“[10]
[1] Gregg (2020), S. 233.
[2] Watter (2020): Erzählerin des Nichterzählten. Zugriff am 04.02.2024. https://www.sueddeutsche.de/muenchen/landkreismuenchen/literatur-erzaehlerin-des-nichterzaehlten-1.4968453.
[3] Vgl. Marmet-Annen (2016), S. 5.
[4] Beetz, Schöfmann (2021), S. 355.
[5] Vgl. Kellermann (2011), S. 145.
[6] Vgl. Luerweg (2020): Psychotherapie für die Gene?. Zugriff am 15.02.2024. https://www.spektrum.de/magazin/eine-psychotherapie-fuer-die-gene/1734120.
[7] Max-Planck-Institut (2017): Epigenetik zwischen den Generationen. Max-Planck-Forscher zeigen, dass wir mehr als nur Gene erben. Zugriff am 15.02.2024. https://www.mpg.de/11396064/epigenetik-vererbung.
[8] Vgl. Atlas (2023), S. 250.
[9] Vgl. Steinmauer (2020), S. 58.
[10] Atlas (2023), S. 249.