Neurodivergenz und besonders ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) oder ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Störung) werden von der Gesellschaft häufig als Schwäche betrachtet und mit Belastungen für die Familie und Schulproblemen in Verbindung gebracht. Diese Wahrnehmung prägt nicht nur die gesellschaftlich immer größer werdende Debatte, sondern bringt auch Schwierigkeiten für Betroffene mit sich, die sich in Selbstakzeptanz üben. Doch was geschieht, wenn wir einen neuen Blickwinkel einnehmen und die verborgenen Stärken der Neurodivergenz zu schätzen beginnen, welche uns nicht nur persönlich, sondern auch gesellschaftlich bereichern können? Neurodivergenz bietet eine Möglichkeit für neue Perspektiven, Innovationen, Kreativität und Empathie, welche unsere von Struktur und Normen geprägte Welt durchaus erfrischend bereichern kann. Das Thema ADHS hat sich in der letzten Zeit rasant in sozialen Medien wie z.B. Tik Tok verbreitet und der Hashtag dazu ist einer der meist genutzten im Bereich der Gesundheit (Stockreiter et al. 2024, S.234).
ADHS als Diagnose
Seit 1991 ist die Diagnose ADHS nicht mehr nur auf das Kindesalter beschränkt, sondern es stellte sich heraus, dass die Symptomatik in den meisten Fällen auch im Erwachsenenalter bestehen bleibt und sich die Symptome auch immer noch sehr ähneln. Meist ändert sich nur die Ausprägung der einzelnen Symptome. Es wird auf internationaler Ebene davon ausgegangen, dass 5,9-7,2% der Kinder eine ADHS aufweisen und etwa 2,5% der Erwachsenen laut DSM. Das Geschlechterverhältnis zwischen Jungs und Mädchen, bei denen eine ADHS diagnostiziert wird liegt bei 3:1 (Jungen:Mädchen). Außerdem konnte durch Zwillings- und Adoptionsstudien festgestellt werden, dass es bei der Ursache einer ADHS eine bedeutende genetische Komponente gibt. Des Weiteren gibt es auch einen Zusammenhang zwischen ADHS und geringem Geburtsgewicht, sowie Alkohol- und Drogenkonsum während der Schwangerschaft. Eine ADHS kommt mit Abweichungen im Neurotransmittersystem einher. So kommt es zu einer dopaminergen Hypofunktion und einer Auffälligkeit im frontalen striatalen Kortex. Auch die psychosozialen Komponenten sollten bei der Entstehung berücksichtigt werden. So haben Kinder aus sozial schwächeren Familien eher eine ADHS und auch ungünstige familiäre Bedingungen können einen Einfluss haben (wenig Wohnraum, alleinerziehendes Elternteil, psychische Krankheiten innerhalb der Familie). So zeigte sich auch, dass bei Kindern mit ADHS häufiger Aufforderungen an das Kind gestellt wurden und schlecht über es geredet wurde. Die psychosozialen Faktoren spielen allerdings überwiegend eine Rolle beim Schweregrad der ADHS und sind nicht alleiniger Faktor einer Entstehung. Eine ADHS kann genauso bei einem Kind aus einer gut situierten Familie diagnostiziert werden.
Bei der Diagnostik im Erwachsenenalter ist die Komorbidität mit anderen Störungsbildern häufig von großer Bedeutung. So kann eine unbehandelte ADHS im Erwachsenenalter beispielsweise zu Substanzmissbrauch führen. Auch im jungen Alter kommt es häufig neben den klassischen ADHS Symptomen zu emotionalen und sozialen Auffälligkeiten (bspw. aggressiv-dissozial). „Bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS ist das Auftreten komorbider Störungen eher die Regel als die Ausnahme, wobei hauptsächlich oppositionelle Störungen und Störungen des Sozialverhaltens sowie affektive und Angststörungen, aber auch Lern- oder Kommunikationsschwierigkeiten berichtet werden“ (Hoyer und Knappe 2020, S.821).
Zu den Kardinalsymptomen einer ADHS zählen Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität. Die Betroffenen sind meist vergesslich, unkonzentriert und leicht ablenkbar. Außerdem wechseln ihre Ideen und Einfälle, sowie die Stimmung und Handlungen sehr schnell. Die Patienten sind häufig ungeschickt und haben Schwierigkeiten sich zu organisieren. Die Hyperaktivität kann sowohl durch eine innere Unruhe, als auch durch eine erhöhte motorische Aktivität gekennzeichnet sein (mit dem Bein wackeln, Stift klackern, zappeln, übermäßiges Reden, herausplatzen von Antworten, andere unterbrechen, herumlaufen, Hände immer in Bewegung, unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschen etc.). Es gibt verschiedene Subtypen, bei denen die unterschiedlichen Kardinalsymptome unterschiedlich stark ausgeprägt sind.
Bei Kindern kommen die Hinweise zu einer Diagnose auch häufig durch das Lehrpersonal, welche Auffälligkeiten im Unterricht feststellen (Unkonzentriertheit, zappeln, Ablenkbarkeit, verträumt sein usw.). Daraufhin gibt es meist ein erstes Screening mittels Fragebögen, welche Eltern, Lehrer und je nach Alter auch die Kinder/Jugendlichen beantworten. Danach folgen diagnostische Interviews, testpsychologische Diagnostik, Verhaltensbeobachtung des Patienten und medizinische Untersuchungen (bspw. EEG, Blutbild usw.). Wichtig ist, dass die Diagnostik multimodal gestaltet wird.
Behandelt wird das vorwiegend chronische Störungsbild mit unterschiedlichen Verfahren wie Medikation (überwiegend Methylphenidat mit guten Responderraten von 70-80%), Verhaltenstherapie, Familienberatung, Neurofeedback und Strategie- und Stressbewältigungstrainings. Die Behandlung mit Medikation funktioniert in den meisten Fällen sehr gut, es muss allerdings auf die Nebenwirkungen der Stimulanzien geachtet werden (Störungen des Schlafs und des Appetits, Kopfschmerzen, Probleme mit Magen-Darm-Trakt, Leberschäden etc.) (Hoyer und Knappe 2020, S.814-832).
Auch bei adulter ADHS wurde 2024 ein Retardpräparat zugelassen, was auch die Medikation der Erwachsenen erheblich erleichtern und verbessern könnte. Für Kinder ist das Präparat schon lange zugänglich gewesen (Facharztmagazine 2024, S.67).
Chancen durch ADHS
Neben den beeinträchtigenden Symptomen, welche eine ADHS mit sich bringt, gibt es aber auch viele Eigenschaften, die Betroffene mit sich bringen, welche nicht nur sie selbst und ihre Mitmenschen bereichern, sondern von denen sogar das Arbeitsumfeld profitieren kann. Besonders wichtig ist es dabei, dass sich die Betroffenen einen Arbeitsplatz suchen, der sie nicht nur wirklich interessiert, sondern auch zu ihren Bedürfnissen passt. Auf diese Weise kann es beispielsweise sinnvoll sein bei erhöhter motorischer Unruhe einen Job zu wählen, bei dem man eher in Bewegung ist und Abwechslung hat, als einen reinen Bürojob zu wählen. In solchen Berufen kann das hohe Energielevel einen großen Vorteil mit sich bringen. Ist der Arbeitsplatz darauf nicht abgestimmt haben viele das Gefühl ihr Potenzial nicht vollständig ausschöpfen zu können. Außerdem sind viele Betroffene äußerst kreativ und sollten sich auch hier ein Umfeld suchen, was diese Eigenschaft unterstützt. Durch diese besondere Kreativität können neue Innovationen entstehen und Arbeitsteams durch neue Ideen bereichert werden, indem Prozesse neu gedacht werden. In Stresssituationen sind Menschen mit ADHS deutlich handlungsfähiger. Des Weiteren sind sie bei Themen, welche sie wirklich interessieren, in der Lage einen Hyperfokus zu entwickeln, in welchem sie Themengebiete bis ins Detail untersuchen und ergründen. Arbeitgeber und Mitmenschen können auch von dem divergenten Denken von Menschen mit ADHS profitieren. Sie gehen offener an Probleme und Themen heran und finden durch ihre Experimentierbereitschaft kreative und weitreichende Lösungsansätze (Stockreiter et al. 2024, S.234-237).
Fazit
Die gesellschaftliche Wahrnehmung von einer ADHS versperrt häufig den Blick auf die Potenziale, welche dadurch entstehen. Menschen mit dieser Form der Neurodivergenz stellen auch in Zukunft eine große Chance dar, um Problemlösungen und die Entwicklung von Innovationen voranzubringen. Zukünftige Ansätze sollten vor allem darauf abzielen die Stärken zu fördern, statt die Defizite zu pathologisieren. So kann nicht nur ein Mehrwert für die Arbeitswelt entstehen, sondern auch die persönliche Lebensqualität verbessert werden. Die Weiterentwicklung von Diagnostik, Therapie, Neurofeedback und Medikation wird auch in Zukunft eine bedeutende Rolle in der Forschung spielen. Besonders relevant wird hier wahrscheinlich auch das Thema adulte ADHS werden. In einer inklusiveren Gesellschaft mit weniger Stereotypen gegenüber psychischen Krankheiten könnte Vielfalt als Ressource begriffen und ADHS neu gedacht werden. Weniger als Einschränkung, sondern viel mehr als Beitrag zu kreativen und dynamischen Lösungen für eine sich wandelnde Zukunft.
Literaturverzeichnis
Facharztmagazine, Redaktion (2024): Neue Option bei adulter ADHS. In: DNP – Die Neurologie & Psychiatrie (2), S. 67. DOI: 10.1007/s15202-024-6204-0
Hoyer, Jürgen; Knappe, Susanne (2020): Klinische Psychologie & Psychotherapie. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer (Lehrbuch)
Stockreiter, D.; Reuss, F.; Holzgreve, F.; Germann, U.; Oremek, G.; Ohlendorf, D.; Wanke, E. M. (2024): Die Aufmerksamkeitsdefizit /Hyperaktivitätsstörung (ADHS) am Arbeitsplatz. In: Zbl Arbeitsmed 74 (5), S. 234–240. DOI: 10.1007/s40664-024-00534-3
Titelbildquelle
Titelbild von hainguyenrp veröffentlicht am 24.03.2020 über https://pixabay.com/de/photos/gehirn-hand-grau-grau-gehirn-4961452/, abgerufen am 26.01.2025
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