In einer weltweiten Studie aus dem Jahr 1990 konnten 7,67 Millionen Todesfälle auf eine ungesunde Ernährung zurückgeführt werden. Im Jahr 2017 wurden bereits 10,89 Millionen ernährungsbedingte Todesfälle verzeichnet (Lancet, 2019). Schon im Kindergarten werden die Heranwachsenden über eine gesunde Ernährung aufgeklärt. Zuckerhaltige und fettige Lebensmittel können über lange Sicht gesehen fatale Folgen für den Körper haben. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Neoplasmen und nicht zu vergessen – Übergewicht bis hin zu Adipositas. Umso bedeutender ist es daher, auf frisches und im besten Fall biologisches Obst und Gemüse zurückzugreifen. Gerade in Zeiten, die von Leistungsdruck und Unsicherheit sowie von Krieg und Inflation geprägt sind, ist es ein naheliegendes Bedürfnis, zumindest die eigene Ernährung unter Kontrolle zu haben. Nimmt jedoch das Verlangen nach ausschließlich gesunden Nahrungsmitteln und Gerichten überhand, können Alltagseinschränkungen bis hin zur sozialen Isolation die Folge sein. Daraus erschließt sich die Frage: Handelt es sich bei dieser Ernährungsweise um ein potenzielles Störungsbild oder um ein temporäres Gesellschaftsphänomen?
Definition von Orthorexie
Der Begriff Orthorexie oder Orthrorexia nervosa (griech.: „orthos“ = „richtig“ und „orexis“ = Appetit) erschien erstmals in den 90er Jahren in einem Yogajournal und ist zurückzuführen auf den US-Arzt Steve Bratman. Orthorektisches Ernährungsverhalten kann in extremer Ausführung von klinischer Relevanz sein und wird beschrieben als eine Fixierung auf eine gesundheitsbewusste Ernährungsweise. Betroffene befassen sich dabei zwanghaft mit dem für sie „richtigen“, also gesunden Essen und begrenzen ihren Speiseplan auf ein Minimum. Als ungesund definierte Lebensmittel, wie beispielsweise Kohlenhydrate oder Fette sowie potenziell durch Pestizide verunreinigte Erzeugnisse werden aus der alltäglichen Nahrungszufuhr gestrichen. Daraus geht hervor, dass bei einer orthorektischen Ernährungsweise der Fokus auf der Qualität und nicht, wie beispielsweise bei der Bulimia nervosa, der Quantität des Essens liegt (Schmitz, 2018, S.21). Als normabweichend kann die Ernährungsweise betrachtet werden, wenn Betroffene eine Einschränkung in ihrem Lebensstil erfahren und diesen aufgeben oder wenn die gesunde Ernährungsweise mit Angst und Sorgen verbunden ist. Im Gegensatz zu anderen Essstörungen, bei denen der Gewichtsverlust im Vordergrund steht, glauben Orthorektiker*innen an eine unrealistische bis hin zu einer magisch-heilenden Wirkung bestimmter Lebensmitteln (Schuster, 2017, S. 195).
Verglichen mit der Anorexia nervosa ist die Orthorexia nervosa nicht in Klassifikationssysteme wie dem ICD-11 oder dem DSM-V enthalten und definiert. Obwohl es dadurch kein anerkanntes Störungsbild darstellt, wird es dennoch als potenzielle Essstörung oder als eine mögliche Form von Zwangsstörung betrachtet und kritisch diskutiert. Orthorexie geht häufig als komorbide Störung mit bereits manifesten Essstörungen einher. In einer Studie mit 400 psychisch Erkrankten wurde festgestellt, dass bei 38% der Anorektiker*innen und 26% der Bulimiker*innen eine Komorbidität mit Orthorexie vorlag, während die Prävalenz bei psychisch Gesunden, die als Vergleichsgruppe dienten, bei 2-3% lag (Müller, 2016). Ein im deutschsprachigen Raum umfassend evaluiertes Instrument zur Erfassung von orthorektischem Ernährungsverhalten stellt die Düsseldorfer Orthorexie Skala (DOS) dar (Schmitz, 2018, S. 22).
Der Einfluss sozialer Medien
Soziale Medien haben einen starken Einfluss auf das psychische Wohlbefinden und Verhalten. So wurde bereits empirisch belegt, dass eine Korrelation zwischen einem intensiven Gebrauch von sozialen Netzwerken und Depressionen, Ängsten und auch Schlaf- sowie Essstörungen vorliegt (Perlis et al., 2021). Nutzer*innen leiden demnach häufiger an ihrem eigenen körperlichen Erscheinungsbild, weisen ein geringeres Selbstwertgefühl auf und vergleichen sich stärker mit anderen. Neben diesen Störungsbildern kann es auch dazu führen, dass orthorektisches Ernährungsverhalten aufgrund der in den sozialen Netzwerken dargebotenen „Healthy-Lifestyle-Propaganda“ sukzessive steigen kann. Eine von Pixie Turner und Carmen Lefevre veröffentlichte Studie vom University College London deutet darauf hin, dass Instagram User*innen häufiger Symptome einer Orthorexia nervosa aufweisen. Die Autorinnen führen diese Beobachtung auf den sogenannten Echokammer-Effekt zurück, der nicht nur bei politischen Themen, sondern auch im gesundheitsbezogenen Bereich vorzufinden ist. Aufgrund des regelmäßigen Austauschs mit Gleichgesinnten gehen Nutzer*innen davon aus, dass ihre Ansichten und Werte viel häufiger in der Gesellschaft vertreten sind. Dadurch bestärken sie sich untereinander und motivieren sich gegenseitig den Ernährungsplan, ohne kritische Hinterfragung der Restriktionen, strenger durchzuführen. Als problematisch erachten Levere und Turner zudem die sich selbst ernannten Ernährungsgurus sowie Influencer*innen, die ihren Followern ein bestimmtes Ernährungsverhalten vorleben. Nutzer*innen lehnen infolgedessen verschiedene Lebensmittelgruppen kategorisch ab, wodurch eine unausgewogenen Ernährungsweise verursacht wird (Schmitz, 2018, S. 22). Dabei steht nicht nur die eigene Gesundheit im Vordergrund. Ernährungsformen und Diäten wie Veganismus oder Rohkost entsprechen dem heutigen Zeitgeist, einem Konzept der Selbstoptimierung, das in den sozialen Medien angepriesen wird (Ortner, 2018).
Therapeutische Ansätze – eine Handlungsanweisung
Auch im Jahr 2023 ist die nosologische Verortung der Orthorexia nervosa umstritten. Da die Erforschung therapeutischer Behandlungswege noch am Anfang steht, wird nachfolgend ein erster Behandlungsansatz angestoßen.
Da Orthorektiker*innen davon überzeugt sind, sich gesund zu ernähren, besteht eine geringe Veränderungsbereitschaft und -motivation. Weisen Betroffene hingegen bereits einen erhöhten Leidensdruck und Mangelerscheinungen auf, ist eine therapeutische Intervention indiziert. Wichtige Bausteine bei einer Behandlung sind dabei die Psychoedukation sowie ein Training hinsichtlich einer mangellosen Ernährungsweise. Darüber hinaus ist auch die Aufarbeitung zwanghafter orthorektischer Verhaltensmuster und Kognitionen von Bedeutung. Vordergründig sind dabei eine wertschätzende Grundhaltung und ein aktives Zuhören der therapeutischen Partei. In der Praxis konnte sich „eine Kombination aus Expositionstherapie und Response Prevention (Vermeidung von Rückversicherungsverhalten) bzw. Reaktionsmanagement“ (Strahler, 2018, S. 25, 26), bezogen auf die Behandlung von zwanghaften Kognitionen, als eine geeignete verhaltenstherapeutische Methode bewähren. Neben einer erfolgreichen Wirksamkeit bei generalisierter Angststörung und Zwängen konnten auch erste Erfolge bei der Behandlung von Essstörungen mit Hilfe der Methode erzielt werden. Basierend auf der symptomatischen Überschneidung mit anderen Essstörungen stellt daher die ERP eine potenzielle Behandlungsform dar (Strahler, 2018, S. 26).
Schlussfolgerung
Eine vitaminreiche Ernährung und ein gesunder Lebensstil manövrieren sich zunehmend in das kollektive Bewusstsein unserer westlichen Gesellschaft. Die Motive sind dabei sehr unterschiedlich und können sich von der Selbstoptimierung, einer krankheitslindernden Wunschvorstellung bis hin zur sozialen Zugehörigkeit erstrecken. Die Ernährungsrituale werden dabei zwanghaft eingehalten und können zu schwerwiegenden Folgen führen, wie beispielsweise Mangelernährung oder sozialer Isolation. Geblendet vom Glanz der sozialen Medien und dem Wunsch nach Inklusion verschreiben sich zahlreiche Menschen einer zwanghaft gesunden Ernährungsweise. Ob es sich bei dem beschriebenen Phänomen um ein potenzielles Störungsbild handelt, um eine Vorstufe anderer essbezogener Störungen oder um einen gesellschafts- bzw. kulturell erschaffenen Ernährungstrend, lässt sich nach dem aktuellen Forschungsstand noch nicht eindeutig sagen. Es gilt daher abzuwarten, ob sich die Orthorexia nervosa als eigenständiges sowie klinisch relevantes Störungsbild etablieren lässt und ob es künftig eine vom Konsens getragene Definition dafür geben wird (Strahler, 2018, S. 26).
Literaturverzeichnis
Lancet. (2019). Anzahl ernährungsbedingter Todesfälle weltweit nach Ursache im Vergleich der Jahre 1990 und 2017 (in 1000) [Graph]. In Statista. Zugriff am 23.05.2023. Verfügbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1050039/umfrage/anzahl-ernaehrungsbedingter-todesfaelle-weltweit-nach-ursache/
Ortner, J. (2018). In aller Munde – eine soziodramatische Betrachtung der Ernährung. Z Psychodrama Soziom, 17(1), S. 7-15. doi: 10.1007/s11620-018-0463-8.
Perlis, R.H., Green, J., Simonson M., Ognyanova, K., Santillana, M., Lin, J., et al. (2021). Association Between Social Media and Self-reported Symptoms of Depression in US Adults. Jama NEtw Open, 4(11), S. 1-6. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2021.36113
Schmitz, K. (2018). Ist das noch gesund? Gehirn & Geist, 5(18), S. 18-23.
Schuster, B. (2017). Pädagogische Psychologie. Heidelberg: Springer.
Strahler, J. (2018). Orthorexia nervosa: Ein Trend im Ernährungsverhalten oder ein psychisches Krankheitsbild? Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Psychotherapeutenjournal, 1, S. 20-26.
Bildnachweis
Bild 1: https://www.pexels.com/de-de/foto/geschnittene-fruchte-auf-tablett-1132047/