„Bist du gegen Corona geimpft?“ Wer diese Frage verneint, steht schnell im Verdacht, Impfgegner*in oder Corona-Leugner*in zu sein. Doch es gibt auch Menschen, die sich gern impfen lassen würden, es aber schlichtweg nicht schaffen – aus Furcht vor der Spritze. Bisweilen fallen sie allein beim Gedanken an den Piks in Ohnmacht.
Für Menschen mit Spritzenphobie ist oft auch der Anblick von Blut oder Verletzungen problematisch. Fachleute sprechen zusammenfassend von einer Blut-Spritzen-Verletzungsphobie (kurz: BSV).[1] Mindestens drei bis vier Prozent der Bevölkerung sind betroffen.[2] Möglicherweise ist die Dunkelziffer deutlich höher, denn naturgemäß meiden viele Betroffene den Arztbesuch.[3]
Die Furcht ist mitunter so groß, dass Phobiker*innen wichtige Vorsorge- oder Behandlungsmaßnahmen vermeiden – etwa den Zahnarztbesuch, die Blutabnahme, medizinische Eingriffe oder eben die Impfung gegen das Coronavirus.[4]
Mehr als ein mulmiges Gefühl
Mit dem leichten Unbehagen, das viele Menschen beim Anblick von Blut oder einer Spritze verspüren, hat die BSV wenig zu tun. Sie zählt zu den spezifischen (isolierten) Phobien.[5] Charakteristisch für diese Angststörungen ist eine starke, dauerhafte und unangemessene Furcht, die sich auf bestimmte Situationen oder Objekte bezieht und mit Leidensdruck verbunden ist. Oft zeigen sich erste Symptome im Kindes- oder frühen Erwachsenalter.[6] Typisch ist das Vermeidungsverhalten: Potenziell furchtauslösende Situationen umgehen Phobiker*innen so gut wie möglich, obwohl sie wissen, dass die Furcht unbegründet oder übertrieben ist.[7]
Bei Konfrontation mit dem phobischen Reiz, etwa der Spritze, zeigen Betroffene fast immer und unmittelbar eine Furchtreaktion mit Symptomen wie Schweißausbruch, Zittern oder Herzrasen. Je näher der Auslöser zeitlich oder physisch rückt, desto stärker die Reaktion.[8] Im Falle der BSV bedeutet das zum Beispiel: Je näher der Impftermin, desto größer die Furcht – und eine Spritze in der Vorstellung ist weniger schlimm, als sie leibhaftig vor Augen zu sehen.
Unterschied zu anderen Phobien: Ohnmachtsneigung
Menschen mit anderen spezifischen Phobien befürchten häufig, vor Angst ohnmächtig zu werden. Tatsächlich passiert das jedoch in der Regel nicht.[9] Die BSV ist eine Ausnahme: Rund 75 Prozent aller Erkrankten sind bei Konfrontation mit Blut, Spritzen oder Verletzungen schon einmal „umgekippt“.[10] Insbesondere der Anblick von Blut scheint ein häufiger Auslöser zu sein.[11]
Ursache der Ohnmacht ist eine sogenannte vasovagale Synkope.[12] Bei Konfrontation mit dem phobischen Reiz wird zunächst – wie bei anderen Phobien auch – der sympathische Teil des vegetativen Nervensystems aktiv: Blutdruck und Herzfrequenz steigen kurzfristig an.[13] Im Gegensatz zu allen anderen spezifischen Phobien wird bei der BSV die sympathische Aktivität jedoch nach wenigen Sekunden gedrosselt und die parasympathische Aktivität verstärkt. Durch eine Übererregung des 10. Hirnnervs (Nervus vagus) erweitern sich die peripheren Gefäße der Muskulatur. Die Folge: Herzrate und Blutdruck sinken abrupt.[14] Das Hirn wird nicht mehr ausreichend durchblutet, was eine Ohnmacht zur Folge haben kann. Meist sind die Betroffenen schon wenige Sekunden nach dem „Umkippen“ wieder bei Bewusstsein. Sie fühlen sich jedoch oft noch für längere Zeit erschöpft und benommen (vgl. Tab. 1).[15]
Phase | Symptome |
---|---|
Prodromalphase | Individuelle Symptome wie Schwindel, Benommenheit, Blässe, Wärmegefühl, kalte, schwitzende Hände, weiche Knie, Kribbeln, Übelkeit, Schwarzwerden vor Augen, Ohrgeräusche |
Ohnmacht | Bewusstseinsverlust (meist wenige Sekunden) durch reduzierten Blutfluss zum Gehirn |
Erholung | Wiedererlangen des Bewusstseins, möglicherweise noch Symptome wie Übelkeit oder Schwindel für Minuten bis Stunden; möglicherweise weitere Symptome wie Schwitzen, Weinen, Bauchschmerzen |
(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Schienle/Leutgeb (2012), S. 7-8)
Warum es bei der BSV zur Ohnmacht kommt und bei anderen Phobien nicht, ist nicht völlig geklärt. Vermutlich ist dies ein vorzeitliches Erbe: Im Falle einer Verletzung mindert der vasovagale Reflex den Blutverlust, sodass die Person nicht so schnell verblutet. Hinzu kommt, dass Angreifer schneller das Interesse an einem leblos wirkenden Körper verlieren.[16] Dies dürfte so manchem Urahnen das Leben gerettet haben. Möglicherweise spielt bei verstärkter Ohnmachtsneigung der Betroffenen aber auch eine angeborene Dysfunktion der autonomen Kreislaufkontrolle eine Rolle.[17]
Behandlung: Verhaltenstherapie & Angewandte Anspannung
Zur Behandlung spezifischer Phobien hat sich insbesondere die Verhaltenstherapie mit Exposition bewährt.[18] In der Exposition wird die Person mit der gefürchteten Situation/dem Objekt konfrontiert. So lernt sie, dass die Angst mit der Zeit abnimmt, und kann die Situation kognitiv neu bewerten.[19]
Bei starker Ohnmachtsneigung wird bei BSV-Phobien zudem die Methode der Angewandten Anspannung („Applied Tension“) nach Öst empfohlen (vgl. Tab. 2).[20] Die Methode soll der physiologischen Reaktion der Ohnmacht entgegenwirken: Durch wiederholtes, mehrsekündiges Anspannen der großen Skelettmuskeln (Arme, Beine, Brust) steigt der Blutdruck kurzfristig an, sodass sich eine Ohnmacht im besten Fall abwenden lässt. Mithilfe von Tagebüchern lassen sich zudem Anzeichen einer drohenden Ohnmacht erkennen, was rechtzeitiges Gegensteuern ermöglicht.[21] Wie die Angewandte Anspannung bei einer Blutspende funktionieren kann, hat die Uni Köln in einem Informationsblatt festgehalten.[22]
Sitzung | Inhalt |
Sitzung 1 | Verhaltensanalyse, Erlernen der Anspannungstechnik |
Sitzung 2 | Darbietung von angstauslösendem Bildmaterial, Wahrnehmen erster Anzeichen einer Ohnmacht (z. B. kalter Schweiß, Übelkeit, Ohrensausen), Anwenden der Anspannungstechnik |
Sitzung 3 | Darbietung von angstauslösendem Bildmaterial, Wahrnehmen erster Anzeichen einer Ohnmacht (z. B. kalter Schweiß, Übelkeit, Ohrensausen), Anwenden der Anspannungstechnik |
Sitzung 4 | Besuch bei einer Blutspendeeinrichtung, Beobachtung anderer Patienten sowie eigene Blutspende, bei Bedarf Anwenden der Anspannungstechnik |
Sitzung 5 | Beobachtung einer Operation (z. B. am offenen Herzen), Anwenden der Anspannungstechnik |
anschließend | Selbstbehandlungsprogramm über 6 Monate |
(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Öst/Sterner (1987))
Fazit
Angesichts der Corona-Pandemie kann eine BSV zu hohem Leidensdruck führen. Zum einen ist die Impfung wichtig, um sich und andere zu schützen. Zum anderen ist sie in verschiedenen Lebensbereichen ein Muss geworden. Nicht zuletzt besteht die Gefahr, durch den fehlenden Impfschutz auf Unverständnis zu stoßen – und sich möglicherweise anhören zu müssen, die Panik vor der Spritze sei nur eine Ausrede. Nahestehende Personen sollten die Furcht ernst nehmen und im besten Fall Hilfe vermitteln.
Für Personen, die sich aus Angst bislang nicht gegen Corona haben impfen lassen, gibt es mittlerweile spezielle Angebote. Etwa vom Fachbereich Psychologie der Uni Marburg: In drei bis vier Gruppenterminen können sich Betroffene unter professioneller Anleitung ihrer Phobie stellen – und sich in diesem Zuge direkt gegen Covid-19 impfen lassen. [23] Auch das Münchener Max-Planck-Institut für Psychiatrie bietet eine nur wenige Sitzungen dauernde Kurzzeittherapie an.[24]
Anlaufstellen & Tipps:
- Fachbereich Psychologie der Uni Marburg
- Max-Planck-Institut für Psychiatrie
- Informationsblatt zur Verhinderung von Ohnmacht bei der Blutspende der Uni Köln
[1] Vgl. Hamm/Richter (2020), S. 1144.
[2] Vgl. Morschitzky (2009), S. 82; vgl. Depla et al. (2008), S. 202.
[3] Vgl. Gebhardt et al. (2010), S. 97.
[4] Vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 2.
[5] Vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 2-3.
[6] Vgl. Hamm/Richter (2020), S. 1142; vgl. Kowalsky/Berking (2012), S. 70.
[7] Vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 2-3; vgl. Hamm/Richter (2020), S. 1143; vgl. Wannemüller (2018), S. 31.
[8] Vgl. Hamm/Richter (2020), S. 1142.
[9] Vgl. Caspar et al. (2018), S. 69.
[10] Vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 2.
[11] Vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 3; vgl. Morschitzky (2009), S. 82.
[12] Vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 3-4; vgl. Öst et al. (1984).
[13] Vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 6.
[14] Vgl. Wannemüller (2018), S. 31-32; vgl. Hamm/Richter (2020), S. 1144.
[15] Vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 6; vgl. Morschitzky (2009), S. 82.
[16] Vgl. Wannemüller (2018), S. 31-32; vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 6.
[17] Vgl. Schienle/Leutgeb (2012), S. 6
[18] Vgl. Bandelow et al. (2021), S. 167.
[19] Vgl. Becker (2011), S. 977.
[20] Vgl. Becker (2011), S. 977; vgl. Öst et al. (1991).
[21] Vgl. Becker (2011), S. 977; vgl. Morschitzky (2009), S. 424.
[22] Vgl. Universität zu Köln (2021).
[23] Vgl. Philipps-Universität Marburg (2021).
[24] Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (2021).
Literaturverzeichnis
Bandelow, B./ Aden, I./ Alpers, G. W./ Benecke, A./ Benecke, C./ Deckert, J./ Domschke, K./ Eckhardt-Henn, A./ Geiser, F./ Gerlach, A. L./ Harfst, T./ Hau, S./ Hoffmann, S./ Hoyer, J./ , Hunger-Schoppe, C./ Kellner, M./ Köllner, V./Kopp, I. B./Langs, G. (2021). Deutsche S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen: Version 2 (2021). https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-028.html, abgerufen am 29.12.2021.
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Kowalsky, J./Berking, M. (2012), Spezifische Phobien. In: Berking, M./Rief, W. (Hrsg.), Klinische Psychologie und Psychotherapie für Bachelor, Berlin, Heidelberg, S. 69-76.
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Wannemüller, A. (2018), Spezifische Phobien. In: Margraf, J./Schneider, S. (Hrsg.), Psychologische Therapie bei Indikationen im Erwachsenenalter, Berlin, S. 29-47.
Beitragsbild:
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Credit: Nataliya Vaitkevich