By Published On: 6. März 2025Categories: Psychologie, Soziales

„In Rhythm 0 macht sie sich über sechs Stunden zum Objekt des Publikums, lässt sich anmalen, entkleiden, es liegen gar eine geladene Pistole und ein Messer bereit, mit denen man sie töten könnte – wofür sie selbst die Verantwortung übernehmen würde. Eine Inszenierung der Ohnmacht mit Todesangst. «Ich gehe so weit, dass es weh tut, dass ich nichts mehr spüre.»“ (Schulthess, 2018).

Marina Abramović, eine weltbekannte Performance-Künstlerin aus Serbien, sorgte 1974 in Neapel für großes Aufsehen. In ihrer Rhythm-Serie, einer Reihe verschiedener Solo-Performances, begab sie sich in Rhythm 0 für sechs Stunden vollständig in die Hände einer Gruppe von Menschen. Diese hatten 72 verschiedene Objekte zur Verfügung, darunter Federn, Trauben, Stifte, Rasierklingen, Olivenöl, Nadeln und sogar eine Pistole. Die Künstlerin befand sich inmitten einer Gruppe von Fremden, die die Freiheit hatten, mit ihrem Körper zu tun, was sie wollten. Was zunächst mit harmlosen Berührungen begann, entwickelte sich schnell zu bedrohlichen Handlungen (Richards, 2019, S. 98–99). Die Gruppe begann, ihre Haut mit Rasierklingen zu verletzen. Berichten zufolge soll eine Person sogar ihr Blut, das aus einem Schnitt an ihrer Kehle stammte, getrunken haben. Parallel zu der zunehmenden Bedrohung bildete sich jedoch eine kleinere Gruppe, die versuchte, sie zu schützen (Enßlen, 2013, S. 86-87). Welche Auslöser erklären dieses Verhalten innerhalb der Gruppendynamik, und wie lassen sich solche Mechanismen psychologisch deuten?

Deindividuation

Die Sozialpsychologie beschäftigt sich mit dem Sozialverhalten der Menschen, insbesondere im Hinblick auf den Einfluss sozialer Normen. Soziale Normen umfassen Regeln und Standards, die innerhalb einer Gruppe akzeptiert werden. Sie können uns einerseits einschränken, bieten jedoch zugleich Struktur und Ordnung (Ullrich et al., 2023, S. 267). Um zu verstehen, was eine Gruppe zufälliger Menschen dazu bringt, sich in diesem Ausmaß zu verhalten, kann das Konzept der Deindividuation herangezogen werden. Deindividuation bezeichnet einen Zustand, in dem Menschen ihr Gefühl für die eigene Identität verlieren. Dadurch neigen sie stärker dazu, extrem zu handeln, häufig Normen zu brechen und sich auf eine Weise zu verhalten, die oft als antisozial wahrgenommen wird (Ullrich et al., 2023, S. 271–272). Ein bekanntes Beispiel für Deindividuation ist der Ku-Klux-Klan, dessen Gewänder und Masken bei den einzelnen Personen eine Reduktion der personalen Identität bewirken. Es zeigt sich, dass nicht nur die Anonymität der Beteiligten für ein erhöhtes Aggressionsverhalten sorgt, sondern auch Einflüsse wie Dunkelheit oder eine größere Menschenmenge. Diese Faktoren verleiten Menschen dazu, Dinge zu tun, die sie unter normalen Umständen nicht tun würden. Dieses Phänomen lässt sich in zwei Prozesse (siehe auch Abbildung) unterteilen:

Abbildung 1: Deindividuation - Modell. Eigene Darstellung, in Anlehnung an (Werth et al., 2020, S. 360).
  1. Durch die Deindividuation entsteht ein geringeres Verantwortungsgefühl: Die Verantwortung nimmt ab, da das Gefühl entsteht, für das eigene Verhalten nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu können – sei es, weil man Teil einer Menschenmasse ist oder weil es dunkel ist.
  2. Der Einfluss der Gruppennormen steigt, während der Einfluss gesellschaftlicher Normen abnimmt: Für das Individuum gewinnen die Gruppennormen an Bedeutung, selbst wenn diese aggressives Verhalten beinhalten. Je nach Gruppendynamik kann dies jedoch auch zu prosozialem Verhalten führen, wie etwa friedlichem Verhalten innerhalb der Gruppe (Werth et al., 2020, S. 359).

Ein weiteres berühmtes Beispiel für Deindividuation innerhalb einer Gruppe liefert Zimbardo mit seinem Stanford-Prison-Experiment. Bei diesem Experiment wurde im Keller der Stanford University eine Gefängnissituation simuliert, in der 24 Studenten entweder die Rolle der Gefängniswärter oder die der Gefangenen übernahmen. Nach sechs Tagen musste die Simulation abgebrochen werden, da die Gruppe der Gefängniswärter stark antisoziales Verhalten zeigte und die Gefangenen durch psychische und physische Erniedrigungen, Nahrungsentzug und Nacktheit bestrafte (Ullrich et al., 2023, S. 271–272).

Rhythm 0 – Im Zusammenhang der Deindividuation 

In Marina Abramovićs Performance führten mehrere situative Gegebenheiten zu der gefährlichen Situation. Das folgende Schema soll zeigen, wie es zur Deindividuation der Einzelnen innerhalb der geschlossenen Gruppe kommen konnte.

Abbildung 3: Deindividuation in Rhythm 0. Eigene Darstellung, in Anlehnung an (Enßlen, 2013; Werth et al., 2020, S. 360)

Dieses Schema verdeutlicht die Abläufe der Deindividuation innerhalb der Performance. Verschiedene situative Gegebenheiten, wie die Gruppensituation, Marinas passiver Auftritt als eine Art „Leinwand“ und die Legitimation durch die Kunst als Institution (ähnlich wie bei Zimbardo durch die wissenschaftliche Institution), führten dazu, dass sich die Individuen nicht mehr als einzelne Teilnehmer wahrnahmen, sondern als Teil eines kollektiv handelnden Ganzen. Das geschlossene Setting verstärkte zusätzlich die Anonymität.

Zu Beginn schien prosoziales Verhalten zu überwiegen, etwa in Form leichter Berührungen oder Umarmungen. Doch nach etwa drei Stunden wurden die Handlungen gegenüber Abramović zunehmend aggressiver und entwickelten sich schließlich zu offen antisozialem Verhalten. Die Gruppe etablierte Normen, die es den Teilnehmern erlaubten, immer weiter zu gehen und extremere Handlungen auszuführen. Eine kleinere Gruppe spaltete sich jedoch ab und versuchte, die Künstlerin zu schützen. Es bildeten sich somit zwei unterschiedliche Gruppendynamiken, wobei die aggressive Gruppe die Mehrheit stellte (Enßlen, 2013, S. 86;Richards, 2019, S. 98–99).

Prävention von gefährlichen Gruppendynamiken 

Gefährliche Gruppendynamiken treten in vielen Bereichen auf – sei es in der Politik (z. B. Rechtsextremismus, Terrororganisationen), in der Religion (z. B. Islamismus, gefährliche Sekten), im sozialen Umfeld (z. B. Mobbing in Schule oder am Arbeitsplatz) oder im Internet (z. B. Cybermobbing). Diese Dynamiken zeigen, wie kollektives Verhalten und Deindividuation in unterschiedlichen Kontexten dazu führen können, dass ethische und soziale Grenzen überschritten werden. 

Handlungsempfehlungen auf politischer/gesellschaftlicher Ebene

Es gibt verschiedene psychologische Ansätze, die zur Prävention und Intervention bei aggressivem Verhalten beitragen sollen. Insbesondere im Umgang mit aggressivem Verhalten gibt es Möglichkeiten, gefährliche Bedrohungen zu minimieren. Eine davon ist die Bestrafung als Form der Intervention, die eine abschreckende Wirkung entfalten kann. Damit Bestrafung jedoch wirksam ist, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein: 

  1. Unangenehme Bestrafung: Die Bestrafung muss für das Individuum ausreichend unangenehm sein, um als Abschreckung zu wirken.  
  2. Hohe Eintretenswahrscheinlichkeit: Die Strafe sollte mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten, damit sie als glaubwürdig wahrgenommen wird.  
  3. Kontrolle negativer Erregung: Die negative Erregung einer Person darf nicht so intensiv sein, dass sie die Fähigkeit blockiert, die Kosten des aggressiven Verhaltens rational abzuwägen. 
  4. Verhaltensalternativen: Es sollten attraktive und realisierbare Verhaltensalternativen verfügbar sein, um aggressives Verhalten zu ersetzen.  
  5. Unmittelbare Konsequenz: Die Konsequenzen der Bestrafung müssen direkt im Anschluss an das Fehlverhalten folgen, um eine klare Verbindung zwischen Ursache und Wirkung herzustellen.  

Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann Bestrafung effektiv dazu beitragen, aggressives Verhalten zu verhindern (Ullrich et al., 2023, S. 347).

Eine strengere Gesetzgebung und das Verbot bestimmter politischer Parteien und Gruppierungen sind essenziell. Ebenso müssen politische und zivilgesellschaftliche Gegeninitiativen verstärkt unterstützt werden. Auch Bildungsangebote könnten einen größeren Beitrag leisten, indem sie wichtige Werte der Demokratie und Menschenrechte vermitteln. Besonders entscheidend ist die Phase vom Kindes- zum Erwachsenenalter, da hier Interventionen besonders wirksam sein können (Beelmann, 2024). 

Handlungsempfehlungen auf schulischer Ebene

Wie bereits erwähnt, ist die Adoleszenz eine besonders wichtige Phase für Präventionsarbeit. Insbesondere im schulischen Kontext können den Kindern zentrale Elemente der Prävention vermittelt werden. Dies ist umso bedeutsamer, da sich in diesem Alter bereits Gruppierungen bilden können, die auf Mobbing abzielen und somit eine Bedrohung für andere Mitschülerinnen und Mitschüler sowie deren Bildungsweg darstellen. Besonders wichtig ist es, Wissen über Gewalt und ihre unterschiedlichen Formen zu fördern. Ebenso zentral sind die Förderung von Sensibilität, Achtsamkeit, sozialen Kompetenzen sowie Strategien im Umgang mit Gewalt, Verantwortungsbewusstsein und Zivilcourage (Wallner, 2018, S. 51).

Fazit

Marina Abramovićs „Rhythm 0“ zeigt eindrucksvoll, wie schnell Gruppendynamiken und Deindividuation Menschen dazu bringen können, soziale Normen zu brechen – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Die Performance verdeutlicht, wie situative Faktoren wie Anonymität oder Legitimation durch einen besonderen Kontext das Verhalten beeinflussen können.

Doch was bedeutet das für unseren Alltag? Wie oft lassen wir uns unbewusst von einer Gruppe leiten, anstatt unsere eigenen Werte zu hinterfragen? Abramovićs Werk fordert uns heraus, über unser eigenes Handeln nachzudenken: Hätten Sie zugesehen, mitgemacht – oder eingegriffen?

Literaturverzeichnis

Beelmann, A. (2024, Oktober 8). Ursachen und Prävention des Rechtsextremismus. bpb.de. https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/552904/ursachen-und-praevention-des-rechtsextremismus/

Enßlen, M. (2013). Inszenierung der Selbstentfremdung. Performance und Publikum in „Rhythm 0“ von Marina Abramović. https://doi.org/10.11588/KB.2003.2.10845

Richards, M. (2019). Marina Abramović (Second edition). Routledge.

Schulthess, P. (2018). Rezension von: J. Fischer: Psychoanalytikerin trifft Marina Abramovic. à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung, 2, Article 2. https://doi.org/10.30820/8245.16

Ullrich, J., Stroebe, W., & Hewstone, M. (Hrsg.). (2023). Sozialpsychologie (M. Reiss, K. Jonas, M. Russin, J. Ullrich, & F. Jud, Übers.; 7. Aufl. 2023). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65297-8

Wallner, F. (2018). Mobbingprävention im Lebensraum Schule.

Werth, L., Seibt, B., & Mayer, J. (2020). Sozialpsychologie – Der Mensch in sozialen Beziehungen: Interpersonale und Intergruppenprozesse. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-53899-9

Titelbildquelle:

Maltsev, Artem. (2020). Mädchen im weißen Langarmhemd auf getrockneten Blättern liegend. Unsplash. https://unsplash.com/de/fotos/madchen-im-weissen-langarmhemd-auf-getrockneten-blattern-liegend-o0DSot0OSjU

Nutzungsbedingung unter https://unsplash.com/de/lizenz, abgerufen am 26.02.2025.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Deindividuation – Modell. Eigene Darstellung, in Anlehnung an (Werth et al., 2020, S. 360).

Abbildung 2: Deindividuation in Rhythm 0. Eigene Darstellung, in Anlehnung an (Enßlen, 2013; Werth et al., 2020, S. 360)

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