By Published On: 15. Juli 2022Categories: Gesundheit, Psychologie

Krieg, Tod, Zerstörung. Der Ukrainekrieg hat eine neue Präsenz dieser Begriffe hervorgebracht, die im 21. Jahrhundert in Europa kaum möglich schien. Während das Leid kein Ende nimmt und über den Ausgang des Krieges nur spekuliert werden kann, ist zumindest eine Sache sicher: Verheerende psychische, physische und wirtschaftliche Folgen. Eine große Rolle spielt hier die Posttraumatische Belastungsstörung [PTBS], von der wohl die meisten schon einmal gehört haben. Sie kann auftreten, wenn eine Person mindestens einem entsetzlichen oder extrem bedrohlichen Ereignis ausgesetzt war, wozu neben Kriegserlebnissen auch Unfälle, Krankheiten, Naturkatastrophen, Misshandlungen und Gewalterlebnisse gehören (Ehring & Kunze, 2020, S. 1161; WHO, 2022). Nach der ICD-11 gliedern sich die Symptome der PTBS in drei Gruppen, wobei diese mindestens mehrere Wochen lang anhalten und schwere Beeinträchtigungen in wichtigen Funktionsbereichen (z. B. familiär, sozial, beruflich) verursachen (WHO, 2022):

Symptomatik der PTBS nach ICD-11
Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Form lebhafter intrusiver Erinnerungen, Rückblenden oder Albträumen (oft begleitet von starken Emotionen und körperlichen Empfindungen, z. B. emotionale Taubheit und Dissoziationen)
Vermeidung von Gedanken und Erinnerungen an das Ereignis sowie Vermeidung von Aktivitäten, Situationen oder Personen, die an das Ereignis erinnern
anhaltende Wahrnehmung erhöhter aktueller Bedrohung in Form von Hypervigilanz oder einer verstärkten Schreckreaktion auf Reize
Tabelle 1: Symptomatik der PTBS nach ICD-11 (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an WHO, 2022)


Sekundäre Traumatisierung

Das Auftreten der Symptomatik begrenzt sich jedoch nicht nur auf Personen, die dem Ausgangstrauma unmittelbar ausgesetzt waren. Auch Personen, die zum Zeitpunkt des Ereignisses nicht anwesend und somit keine sensorischen Eindrücke der traumatischen Situation erhielten, können eine sog. Sekundäre traumatische Belastungsstörung [STBS] entwickeln. Voraussetzung hierfür ist, dass eine Konfrontation mit traumatisierten Menschen gegeben war, was zur Folge hat, dass häufig Zeugen und Helfer wie Rettungspersonal und Polizisten, aber auch Personen wie Trauma-Therapeuten oder Angehörige der Opfer von einer STBS betroffen sind (Sendera & Sendera, 2013, S. 80). Des Weiteren können, neben den in Tabelle 1 genannten Symptomen, auch somatische Beschwerden, Zynismus, Niedergeschlagenheit, Entgrenzung, pseudopsychotisches Bedrohungserleben sowie Substanzmissbrauch als Symptom auftreten (Daniels, 2008, S. 102-103). Einen Überblick über weitere Gefahren der STBS gibt die folgende Tabelle.

Gefahren der Sekundären Traumatisierung
▪ Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses
▪ Erschütterung von Grundannahmen, Veränderungen des Selbstgefühls
▪ Verlust von Selbstvertrauen, Erschütterung der Sicherheit
▪ Verlust oder Einschränkung von Handlungskompetenz
▪ mangelnde Distanzierungsmöglichkeit zum traumatischen Ereignis
▪ Identifikation mit dem Opfer, Retterfantasien
▪ Erleben von Hilflosigkeit und Ohnmacht, Schuldgefühle, Traurigkeit, Depressionen
▪ Verlust von Vertrauen in die menschlichen und technischen Möglichkeiten
▪ Entwicklung von Vorurteilen, Zynismus, Aggressionen und Intoleranz
Tabelle 2: Gefahren der sekundären Traumatisierung (Quelle: Sendera & Sendera, 2013, S. 82)


Erinnerungsbilder ohne eigene Erinnerungen

Im Allgemeinen stellt die STBS das Ergebnis wiederholter Belastungen durch traumatische Schilderungen dar (Maercker, 2019, S. 541). Verbale Beschreibungen von traumatischen Ereignissen reichen also aus, um intrusive visuelle Bilder hervorzurufen (Kranks et al., 2010, S. 16). Wie ist das überhaupt möglich? Eine Begründung findet sich in der Überlappung der Gehirnregionen, die für visuelles Wiedererleben und visuelle Vorstellungen zuständig sind. „Für das Gehirn […] [ist] es auf einer gewissen Verarbeitungsebene […] egal, ob die Bilder durch das Auge und den visuellen Nerv oder aber durch die Vorstellungsfähigkeit entstanden sind.“ (Wolf, 2018)

Unterscheidungsmerkmale der primären und sekundären Traumatisierung

Auch wenn Personen mit PTBS und STBS eine ähnliche Symptomatik aufweisen, lassen sich einige Unterschiede festhalten. Während sich bei primär Traumatisierten nämlich ein Gefühl des Ausgeliefertseins einstellt, können sekundär Traumatisierte die Kontrolle über die Situation beibehalten. Dies zeigt sich darin, dass Therapeuten und Helfer die Sitzung oder den Einsatz mit bestimmten Techniken und Taten beeinflussen können. In der Regel fallen bei einer STBS auch Symptome wie Angst, Entsetzen und Hilflosigkeit weg bzw. das Ausmaß der Symptome ist nicht vergleichbar, da der Eintritt weder plötzlich noch unvorbereitet erfolgt. Therapeuten wissen z. B., wann die nächste Sitzung stattfindet und Helfer, wann sie zu einem Unfallort fahren. Des Weiteren besitzen Helfer eine gute Ausbildung und sind demgemäß auf Krisensituationen vorbereitet. Trauma-Therapeuten haben bei der Bewältigung zudem den Vorteil, dass sie durch ihr Fachwissen in der Lage sind, Symptome rechtzeitig zu erkennen. Letztlich sind bei einer STBS auch keine unterschiedlichen Lebensbereiche betroffen und auch die Ätiologie und Auslöser weisen Differenzen auf (Daniels, 2008, S. 100; Sendera & Sendera, 2013, S. 81).

Ursachen der Sekundären Traumatisierung – ist sie ein Zeichen mangelnder Professionalität?

Die Annahme, die STBS sei im beruflichen Kontext das Resultat einer mangelnden Professionalität, ist weit verbreitet. Als Hauptursache der STBS erweist sich jedoch eine ausgeprägte Empathiefähigkeit und diese ist, vor dem Hintergrund, dass sie eine notwendige Bedingung für helfende Berufe darstellt, sicherlich nichts Negatives. Kritisch wird es jedoch, wenn eine dissoziative Verarbeitung des Traumamaterials stattfindet. Dies geschieht, wenn Belastungsgrenzen überschritten werden und Ressourcen sowie Coping-Strategien erschöpft sind. Im privaten Kontext wird zudem eine fehlende Distanz als Ursache ausgemacht. Besonders anfällig seien hierbei Personen, die sich mit der betroffenen Person identifizieren (z. B. Ehepartner) und dadurch deren Erlebnisse verinnerlichen (Daniels, 2008, S. 104; Sendera & Sendera, 2013, S. 80; Wolf, 2018). Wichtig ist daher, der dissoziativen Verarbeitung mithilfe von Bewältigungsstrategien entgegenzuwirken. Wie diese aussehen können, zeigen folgende Handlungsempfehlungen .

Handlungsempfehlungen zur Prävention

1. Selbstbeobachtung und Selbstverbalisierung: Egal, ob beruflich oder privat. Die Reaktionen und Schilderungen der PTBS-Betroffenen können auch beim Zuhörer bestimmte kognitive, emotionale und körperliche Reaktionen auslösen. Als Zuhörer sollten diese Reaktionen genau beobachtet und benannt werden, um rechtzeitig intervenieren und eine Chronifizierung vorbeugen zu können. Eine regelmäßige Überprüfung der Belastung kann z. B. mithilfe des Fragebogens zur Sekundären Traumatisierung von J. Daniels (2006) stattfinden (Daniels, 2008, S. 107; Pausch & Matten, 2018, S. 101).

2. Selbstfürsorge: Sowohl im Rahmen der Arbeit als auch im privaten Umgang mit Betroffenen sollte jederzeit eine Distanzierung zu den Schilderungen des Betroffenen möglich sein. Treten erste Anzeichen einer Überforderung oder starken Unbehaglichkeit auf, ist es absolut nötig und legitim, frühzeitig „Stopp“ zu sagen. Dies stellt nichts Negatives dar. Im Gegenteil, es zeigt den Betroffenen in Form einer Vorbildfunktion auf, dass es völlig in Ordnung ist, auf den Selbstschutz zu achten (Maercker, 2019, S. 542; Pausch & Matten, 2018, S. 101).

3. Organisation der Arbeit: Im beruflichen Umfeld ist es von Vorteil, die Kontakte zu PTBS-Betroffenen so zu legen, dass davor und danach kurze Ruhepausen oder Reflexionszeiten gewährleistet sind, in denen z. B. kleine Entspannungs- und Distanzierungsübungen durchgeführt werden können. Ebenfalls von Bedeutung sind regelmäßige Inter- und Supervisionen. Sowohl der Austausch mit Kollegen als auch die Betrachtung der Arbeit durch einen Supervisor bringen Raum und Entlastung für die eigene Person (Maercker, 2019, S. 541; Pausch & Matten, 2018, S. 101).

4. Freizeit- und Alltagsgestaltung: Da die Arbeit und der Kontakt mit PTBS-Betroffenen sehr belastend ist, sollte stets auf einen bewussten Ausgleich geachtet werden. Hierzu gehört sowohl der Aufbau eigener Ressourcen als auch die Stärkung der Resilienz, indem Entspannungs- und Freizeitmöglichkeiten ausgebaut werden. Ebenso von Bedeutung ist die Trennung von Arbeit und Freizeit: Weiterbildungsmöglichkeiten (am Wochenende) stellen keinen Teil der Freizeit, sondern des Berufs dar. Und auch die dauerhafte Beschäftigung mit der Traumathematik (z. B. mehrmals tägliche Berichterstattung des Ukrainekriegs) sollte verhindert werden (Maercker, 2019, S. 541; Pausch & Matten, 2018, S. 101).

Fazit

Angesichts der aktuellen Entwicklungen, wo Millionen von traumatisierten Menschen eine Unterkunft bei Nichtbeteiligten des Krieges finden, ist es mehr denn je notwendig, sich mit der Thematik der STBS näher zu beschäftigen. Ebenso sollte auch im Beruf der Tabuisierung des Themas entgegengewirkt werden, schließlich sind die Symptome einer STBS eine völlig normale Reaktion auf unnormale Informationen. Wichtig ist jedoch, mithilfe von Selbstfürsorge, Ressourcen und Austausch einer Chronifizierung der Symptome vorzubeugen.

Fragebogen zur Selbsteinschätzung:

Fragebogen zur Sekundären Traumatisierung von J. Daniels (2006)

Literaturverzeichnis

Daniels, J. (2006). Fragebogen zur Sekundären Traumatisierung. Zugriff am 24.04.2022. Verfügbar unter https://sekundaertraumatisierung.de/wp-content/uploads/2019/06/FSTAuswertung.pdf

Daniels, J. (2008). Sekundäre Traumatisierung. Interviewstudie zu berufsbedingten
Belastungen von Therapeuten. Psychotherapeut, 53, 100–107. DOI:  10.1007/s00278-008-0585-y

Ehring, T. & Kunze, A. (2020). Posttraumatische Belastungsstörung. In: Hoyer, J. & Knappe, S. (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie (3. Aufl., S.1159-1182). Berlin: Springer. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1

Krans, J., Näring, G., Holmes, E. & Becker, E. (2010). „I see what you’re saying“: intrusive images from listening to a traumatic verbal report. Journal of Anxiety Disorders, 24(1), 134-140. DOI: 10.1016/j.janxdis.2009.09.009

Maercker, A. (2019). Besonderheiten bei der Behandlung und Selbstfürsorge für Traumatherapeuten. In: Maercker, A. (Hrsg.), Traumafolgestörungen (5. Aufl., S. 527-546). Berlin/ Heidelberg: Springer. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-58470-5

Pausch, M. & Matten, S. (2018). Trauma und Traumafolgestörung. In Medien, Management und Öffentlichkeit. Wiesbaden: Springer. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-17886-4

Sendera, A. & Sendera, M. (2013). Trauma und Burnout in helfenden Berufen. Wien: Springer. DOI: 10.1007/978-3-7091-1244

WHO (2022). Post traumatic stress disorder. Zugriff am 24.04.2022. Verfügbar unter https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/2070699808

Wolf, C. (2018). Sind Traumata ansteckend? Zugriff am 28.04.2022. Verfügbar unter https://www.spektrum.de/news/empathie-sind-traumata-ansteckend/1534611


Beitragsbild von „benerott“ auf pixabay.com:

benerott (2019). Fire. Fighters. Firefighter. Zugriff am 21.04.2022. Verfügbar unter https://pixabay.com/photos/fire-fire-fighters-firefighter-4149479/

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