Fallbeispiel: In einem psychologischen Zentrum erfährt eine neue Förderassistentin für integrative Lerntherapie zu Beginn ihres zweiten Arbeitstages, dass sie drei türkischstämmige Kinder zweiter Generation kennenlernen würde, von denen zwei Kenan und einer Adem hießen. Als sie den dreien später im Therapieraum gegenübersteht, werden die Jungen von der Leiterin aufgefordert sich vorzustellen. Zwei von ihnen verraten sofort kichernd, dass sie beide Kenan heißen. Der dritte, der geheimnisvoll grinst, gibt nur von sich preis, dass sein Name mit A beginnt. Die Förderassistentin steigt freundlich lächelnd auf das Ratespiel ein und überlegt zögerlich: „A…, A…, hm,… ich glaube, du heißt Adem, denn du siehst aus wie ein Adem.“ Der Junge ist sichtlich überrascht. Die Assistentin stellt sich schließlich selbst als Melanie vor, und die Leiterin weist den Kindern einen Platz für ihre Förderarbeit zu. „Ihr arbeitet heute mit Melanie“, sagt sie zu ihnen. Adem reagiert mit sozialer Distanz: „Mit ihr arbeite ich nicht. Schau, wie sie aussieht.“
Anmerkung: Alle im Fallbeispiel genannten Namen wurden redaktionell geändert.
Warum reagiert der Junge so? Klar ist, dass er Melanie durch soziales Spiegeln etwas rückmelden möchte (Asendorpf 2022). Aber warum reagiert er abweisend? Aus Sicht der Psychologie weist Adems Aussage darauf hin, dass er ein negatives vermutetes Fremdbild hat. Aber was ist das eigentlich?
Vermutetes Fremdbild vs. Selbstbild
Laut dem Lexikon der Psychologie werden als vermutetes Fremdbild jene Annahmen bezeichnet, die eine Person über das Bild hat, das andere vermeintlich von ihr selbst haben. Es entsteht in der interpersonalen Wahrnehmung und geht in das soziale Selbstbild über, das mit dem eigenen Selbstkonzept verglichen wird. Durch das vermutete Fremdbild ergibt sich die Beziehung zu anderen (Bergius, Rudolf Johannes Wilhelm 2022b) (siehe Abbildung unten). Deshalb haben Melanie und Adem keinen guten Start. Sie versucht die Situation durch einen Scherz aufzulockern, aber er fasst ihre Aussage als Beleidigung auf. Durch den großen Ähnlichkeitsabstand zwischen seinem Selbstbild und seinem vermuteten Fremdbild entsteht die soziale Distanz zwischen den beiden (Bergius, Rudolf Johannes Wilhelm 2022a). Und was genau ist nun das Selbstbild?
Als Selbstbild bzw. Selbstkonzept werden die Kognitionen und Gefühle bezeichnet, die ein Mensch sich selbst gegenüber hat (Bergius, Rudolf Johannes Wilhelm 2022b). Noch am selben Tag berichtet Adem sichtlich stolz und sehr detailliert in einem Gesprächskreis mit fünf anderen Kindern, zwei Förderassistentinnen und der Zentrumsleiterin von Situationen, in denen Männer mit großen Waffen andere Menschen getötet haben. Es habe sehr viel Blut gegeben. Sein Vater habe ihm davon erzählt. Ein anderer Junge und er versuchen sich daraufhin durch Erzählungen von heldenhaften Männern, die anderen schwere Gewalt zufügen, gegenseitig zu übertreffen. Adem hat offenbar ein problematisches Männerbild.
Entstehung des Selbstbildes
Das Selbstbild entsteht einerseits durch die Selbstbeobachtung (eigene Erlebnisse und Handlungen) und andererseits durch die Beurteilung durch andere Personen (Lob, Tadel, Lohn, Strafe). Die Beurteilung durch andere formt das ideale Selbstbild und führt zur Ich-Ideal-Diskrepanz, die auch als „Selbsterkenntnis“ bezeichnet wird (Bergius, Rudolf Johannes Wilhelm 2022b). Menschen tendieren durch die Mechanismen der Stabilisierung hinsichtlich ihres Selbstkonzeptes dazu, sich so zu sehen, wie sie glauben von anderen gesehen zu werden (Asendorpf 2022). Dabei lohnt sich ein Blick darauf, wie Adem einerseits zuhause und andererseits in einem anderen sozialen Umfeld wie zum Beispiel der Schule wahrgenommen wird.
Orientierungslosigkeit in unterschiedlichen Wertesystemen
Laut Buchholz (2019) werden die Kinder türkischer Migrant*innen zuhause häufig zur Zusammengehörigkeit erzogen und lernen, zwischen Familie und Nicht-Familie sowie ethnischer Community und „den Anderen“ (der westlichen Gesellschaft) zu unterscheiden. Diese klare Differenzierung wird von den Kindern und Jugendlichen täglich als manifeste Tatsache wahrgenommen. Auch der Erziehung zur kulturellen Identität mit dem Erziehungsziel „Nationalstolz“ nehmen sich die Eltern zuhause an. Die Kinder sollen sich nicht von den Wert- und Normvorstellungen der Eltern entfernen, und die eigene Nation wird verherrlicht. Allerdings berichten Jugendliche häufig, dass ihre Erwartungen an dieses Bild von Heimat enttäuscht werden und die Idealisierung der Herkunft bei ihnen nicht selten zu Irritationen führt (S. 140–141). Hinsichtlich der familiären Erziehungslogik wird Adem belohnt, wenn sich sein Selbstbild mit den anerzogenen Werten deckt und er sein Denken und Verhalten danach ausrichtet.
Adems negatives vermutetes Fremdbild in der Situation unseres Fallbeispiels ließe sich hinsichtlich des starken kulturellen Zusammenhaltes dahingehend erklären, dass Melanie nicht seiner ethnischen Community angehört. Weiters liegen Belege vor, dass Lehrkräfte in Deutschland von Schüler*innen mit Migrationshintergrund teilweise geringere Leistungen erwarten als von jenen ohne Migrationshintergrund. Eine solche auf Stereotypen basierende systematische Verzerrung von Leistungserwartungen ist problematisch, da die Erwartung, die eine Lehrkraft an ein Kind richtet, tatsächlich beeinflussen kann, wie ein Kind denkt und wie viel es lernt. Die gesellschaftlichen Erwartungen an Zuwander*innen, sowie Stereotype und Vorurteile gegenüber Migrant*innen und das Erleben von Diskriminierung können sich für Kinder und Jugendliche hinderlich auf die Identifikation mit dem Aufnahmeland und damit auch auf den Erwerb der deutschen Sprache und der Entwicklung schulischer Kompetenzen auswirken (Vock und Gronostaj 2017, S. 26). In schulischen Situationen kann Adem mit vielen zuhause erlernten Wertvorstellungen nicht punkten, sieht sich häufig gleichzeitig mit Vorurteilen konfrontiert und erfährt demzufolge öfters Tadel und Strafe, wodurch sein zuhause erworbenes Selbstbild ins Wanken gerät.
Wie kann den unterschiedlichen Wertesystemen im Sinne einer besseren Orientierungsfindung für betroffene Kinder und Jugendliche begegnet werden?
Lösungsansätze zur Orientierungsfindung
Das Zauberwort heißt Integration, und ein Weg zum Ziel führt über die Eltern. Es gibt Bemühungen im deutschen Bildungssystem, mehr Menschen mit ausländischen Wurzeln für den Lehrer*innenberuf zu gewinnen. Hintergrund ist, dass sie als positive Rollenbilder für eine gelungene Integration und Bildungslaufbahn fungieren können und dass sie für Eltern mit Migrationshintergrund eher als Ansprechpartner*innen angenommen werden (Vock und Gronostaj 2017, S. 27). Österreichische Expert*innen fordern einen Integrationsfördertopf, über den alle geflüchteten Schulkinder psychosoziale sowie sprach- und bildungsbezogene Unterstützung bekommen können (STANDARD Verlagsgesellschaft m.b.H. 2022). Eine Ausweitung dieser Forderung auf alle Migrant*innen bis hin zur zweiten Generation ist in Anbetracht der hier besprochenen Orientierungslosigkeit betroffener Kinder und Jugendlicher wünschenswert.
Fazit
Das Fallbeispiel mit Adem soll den Zusammenhang von Selbstbild, vermutetem Fremdbild und Orientierungslosigkeit muslimischer Kinder und Jugendlicher in westlichen Gesellschaften veranschaulichen. Diese sehen sich in Österreich und Deutschland täglich mit der Herausforderung konfrontiert, sich in sehr konträren Erziehungslogiken und Wertesystemen zurechtfinden zu müssen. Die Widersprüchlichkeiten zwischen Schule und Familie, denen sie permanent ausgesetzt sind, lösen in ihnen eine gewisse Orientierungslosigkeit aus. Gemeinsam mit vielfach bestehenden Sprachdefiziten, dem (subjektiven) Gefühl ausgeschlossen zu sein und den Stereotypen und Vorurteilen der westlichen Gesellschaft kann diese Orientierungslosigkeit eine Ursache für mangelnden Schul- und Berufserfolg darstellen und dem Aufbau eines gesunden Selbstbildes und eines allgemein positiv vermuteten Fremdbildes im Wege stehen. Eine gelungene Integration könnte die Eltern mit ins Boot holen, einen intensiven Lehrer*innen-Eltern-Austausch ermöglichen und dadurch eine Werteannäherung bewirken. Dadurch erhielten die betroffenen Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, ein stabiles Selbstbild und ein allgemein positiv vermutetes Fremdbild zu entwickeln.
Literatur:
Asendorpf, Jens (2022): Selbstkonzept, Mechanismen der Stabilisierung im Dorsch Lexikon der Psychologie. Online verfügbar unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/selbstkonzept-mechanismen-der-stabilisierung.
Bergius, Rudolf Johannes Wilhelm (2022a): Distanz, soziale im Dorsch Lexikon der Psychologie. Online verfügbar unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/distanz-soziale.
Bergius, Rudolf Johannes Wilhelm (2022b): Selbstbild im Dorsch Lexikon der Psychologie. Online verfügbar unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/selbstbild.
Buchholz, Barbara (2019): Neue Lernkultur in der Erziehungskrise? : Tyrannenkinder und Helikoptereltern in der Schule : Erziehung und Unterricht in der Grundschule zwischen entwicklungspsychologischen Bedürfnissen und Fähigkeiten und dem Anspruch schulpädagogischer Machbarkeit. [Eisenstadt] Eisenstadt: E. Weber Verlag GmbH Pädagogische Hochschule Burgenland (phb-Hochschulschriften / 2019, 1). Online verfügbar unter https://ubdata.univie.ac.at/AC15358408.
STANDARD Verlagsgesellschaft m.b.H. (Hg.) (2022): AK fordert umfangreiche Reform der Deutschförderklassen. Online verfügbar unter https://www.derstandard.at/story/2000139843815/ak-fordert-umfangreiche-reform-der-deutschfoerderklassen.
Vock, Miriam; Gronostaj, Anna (2017): Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung Abt. Studienförderung (Schriftenreihe des Netzwerk Bildung, 40.2). Online verfügbar unter https://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/13277.pdf.
Quellennachweis:
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