By Published On: 28. August 2024Categories: Soziales

In einer hektischen und unvorhersehbaren Welt, die häufig materiellen Wohlstand mit hedonischem Wohlbefinden gleichsetzt und unbegrenztes Wachstum fördert suchen viele Menschen nach Wegen, um innere Ruhe, Widerstandskraft und ein erfülltes Leben zu finden. 

Eine Philosophie, die erstaunlich zeitgemäß ist, obwohl sie Jahrtausende alt ist, ist der Stoizismus. Ursprünglich in der antiken griechischen und römischen Welt entwickelt, bietet der Stoizismus wertvolle Einsichten und Praktiken, die auch im modernen Leben hilfreich sein können. Stoische Tugenden wie Klugheit, Selbstbeherrschung, Mut und Gerechtigkeit können nachhaltige Entwicklung unterstützen (Whiting et al., 2018, S. 1-20). Doch was unterscheidet den antiken Stoizismus von seinem modernen Pendant? Werfen wir zunächst einen Blick auf die antiken Lehren, bevor wir uns den Anpassungen und Erweiterungen widmen, die den modernen Stoizismus ausmachen und uns Ansätze bietet für ein erfüllteres und gelasseneres Leben.

Antiker Stoizismus: Die Weisheit der Alten

Der Stoizismus wurde von Zeno von Citium um 301 v. Chr. in Athen begründet und entwickelte sich durch die Beiträge von bedeutenden Persönlichkeiten wie Cleanthes, Chrysippus, Seneca, Epictetus und Marcus Aurelius. 

Die Anziehungskraft des Stoizismus liegt in seinem Versprechen innerer Ruhe und Widerstandsfähigkeit, unabhängig von äußeren Umständen (Dhiman, 2020, S. 7-9). Die antike Stoa betont die Wichtigkeit der Kontrolle, Selbstprüfung und Vernunft als Mittel, um Eudaimonia, also Glück und Gedeihen, zu erreichen. Dies gelingt durch ein tugendhaftes Leben. Die moralische Tugend, auch arête genannt, oder die Exzellenz des Charakters, ist das höchste Gut der Stoiker. Tugenden wie Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung sind immer nützlich und niemals schädlich, während Laster, Torheit und Ungerechtigkeit die einzigen wahren Übel darstellen. Dinge wie Gesundheit, Reichtum und Ruf werden als „Indifferente“ betrachtet, da sie weder gut noch schlecht sind und das Glück nicht bestimmen. Dementsprechend hängt das Glück auch nicht von äußeren Gütern ab, sondern davon, Tugenden zu entwickeln und „Indifferente“ tugendhaft zu nutzen.

Ein zentrales Prinzip der Stoa ist das Verständnis darüber, was in unserer Kontrolle liegt und was nicht. Seelenfrieden oder Gelassenheit (Ataraxie) wird durch die Kontrolle der eigenen Emotionen und durch rationales Handeln erreicht, indem man akzeptiert, was außerhalb der eigenen Kontrolle liegt, und sich auf das konzentriert, was man ändern kann (Barnow, 2024, S. 137-140; Bene, 2024, S. 141–153; Dhiman, 2020, S. 10-14). 

Moderner Stoizismus: Alte Weisheiten neu interpretiert

Der moderne Stoizismus passt die antike Lehre an heutige Herausforderungen an. Statt einer strikten Dichotomie von Kontrolle und Nicht-Kontrolle wird ein dimensionales Verständnis verwendet, das mehr Flexibilität im Umgang mit Herausforderungen ermöglicht.

Antike Stoiker betonten die Allmacht der Vernunft, während der moderne Stoizismus bio-psycho-soziale Einflüsse anerkennt, ohne die Schulung der Vernunft zu vernachlässigen.

Zudem erkennt der moderne Stoizismus die Bedeutung sozialer Beziehungen und der Verbundenheit mit anderen an. Diese Aspekte machen uns verletzlich, was akzeptiert und integriert wird. Es geht darum, eine Balance zwischen Unabhängigkeit und sozialer Verbundenheit zu finden. Statt strikter Emotionskontrolle wird eine flexible Emotionsregulation angestrebt. Negative Emotionen sollen konstruktiv genutzt werden, um als Motivation zur Verbesserung zu dienen. Die moderne Interpretation erkennt auch an, dass äußere Bedingungen unser Wohlbefinden beeinflussen können, ohne die zentrale Bedeutung der inneren Haltung zu vernachlässigen (Barnow, 2024, S. 137-140).

Empirische Befunde zu modernem Stoizismus

In einem einwöchigen Online-Lehrgang von „Modern Stoicism“ aus dem Jahr 2021 lebten 1400 Teilnehmende eine Woche lang mittels gezielter Übungen nach den Prinzipien des Stoizismus. Die Ergebnisse eines eingesetzten WHO-Fragebogens zeigte eine durchschnittliche Steigerung des subjektiven Wohlbefindens um 25 %, mehr Aktivität und Energie (+40,3 %), Lebenszufriedenheit (+14,5 %) und gesteigertes psychisches Wohlbefinden (+11,5 %) (Barnow, 2024, S. 141-142). Menzies und Whittle (2022) identifizierten in ihrer Studie stoische Techniken wie Akzeptanz des Unkontrollierbaren als potenzielle Interventionen in der kognitiven Verhaltenstherapie zur Verringerung der Todesangst. Eine Studie mit Ärzten von Shreffler et al. (2022) zeigte wiederum signifikante Verbindungen zwischen stoischem Denken und geringerem Stress sowie höherem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit. Vier Hauptfaktoren wurden identifiziert: Kontrollbewusstsein, unnütze Kognition, Wachstumsmentalität und sinnhaftes Sein. Und auch bei einer Untersuchung von Brown et al. (2022) verbesserten sich bei Medizinstudierenden nach einem zwölftägigen Online-Training mit stoischen Übungen ihre Resilienz und Empathie. Beide Studien basierten jedoch auf einer kleinen Stichprobe. 

Praktische Anwendungen für den Alltag

Die Stoiker interessierten sich für die tatsächliche Veränderung des Lebens und nicht für die Theorien des Lebens. Im Folgenden finden Sie einige stoische Übungen, die Inspiration schenken können für ein erfüllteres und engagiertes Leben: 

  • Tägliche Reflexion: Beginnen Sie den Tag mit positiven Erinnerungen und beenden Sie ihn mit einer Reflexion über Ihre Handlungen. Dies fördert Verständnis, Kooperation und persönliches Wachstum. Frage: Was haben ich gut gemacht? Wo kann ich mich verbessern?
  • Dichotomie der Kontrolle: Konzentrieren Sie sich auf das, was in ihrer Kontrolle liegt (Gedanken, Handlungen), und akzeptieren Sie den Rest mit Gelassenheit. Diese stoische Gelassenheit ermöglicht es uns, Herausforderungen ruhiger und rationaler zu begegnen und somit Stress und Angst zu reduzieren.
  • Kosmische Perspektive: Betrachten Sie ihr Leben im Kontext des Universums, um die Bedeutung von Problemen und Beziehungen zu relativieren und innere Ruhe zu finden. 
  • Negative Visualisierung: Stellen Sie sich mögliche Widrigkeiten vor, um besser auf sie vorbereitet zu sein. Dies verringert den Schock und die emotionale Belastung, wenn sie eintreten.
  • Memento Mori: Erinneren Sie sich an ihre Sterblichkeit, um das Leben bewusster und authentischer zu leben. Dies hilft, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
  • Amor Fati: Akzeptieren Sie ihr Schicksal und finden Sie Freude darin. Dies fördert Resilienz und eine positive Einstellung gegenüber unvermeidlichen Ereignissen (Dhiman, 2020, S. 32-38). 

Fazit und Ausblick

Während wir uns durch die Herausforderungen des modernen Lebens navigieren, bietet der Stoizismus nicht nur eine zeitlose philosophische Grundlage, sondern auch praktische Werkzeuge zur Förderung von innerem Frieden und Widerstandsfähigkeit. Die antiken Lehren, die Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit nahelegen, sind in der modernen Interpretation flexibler geworden, um den Anforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Indem wir die Kontrolle über unsere Reaktionen übernehmen, das Unkontrollierbare akzeptieren, sozial engagiert sind und Dankbarkeit praktizieren, können wir ein tieferes Wohlbefinden erreichen.

Zukünftige Forschungen und Anwendungen des modernen Stoizismus könnten noch tiefere Einblicke bieten, wie diese alten Prinzipien in verschiedenen Lebensbereichen, von der psychischen Gesundheit bis zur beruflichen Entwicklung, umgesetzt werden können.  Besonders vielversprechend ist die Integration stoischer Praktiken in therapeutische Ansätze, wie die kognitive Verhaltenstherapie, um Menschen dabei zu helfen, besser mit Angst, Stress und Unsicherheiten umzugehen. Der Stoizismus bleibt somit eine lebendige und relevante Quelle der Weisheit, die uns auf unserem Weg zu einem bewussteren und authentischeren Leben begleiten kann.

Literatur 

Barnow, S. (2024). Was macht ein gelungenes Leben aus?: Weisheiten der Stoiker und moderne Forschung zu Glück und Emotionsregulation. Springer-Verlag.

Bene, L. (2024). Hellenistische Philosophie: Stoa, Epikureismus, Skeptizismus. In: Tornau, C. (eds) Plotin-Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05975-8_12

Brown, M. E. L., MacLellan, A., Laughey, W., Omer, U., Himmi, G., LeBon, T., & Finn, G. M. (2022). Can Stoic training develop medical student empathy and resilience? A mixed-methods study. BMC Medical Education, 22(1), 340. https:// doi.org/10.1186/s12909-022-03391-x. 

Dhiman, S. (2020). More than Happiness: A Stoic Guide to Human Flourishing. In Springer eBooks (S. 1–40). https://doi.org/10.1007/978-3-030-02470-3_51-1

Menzies, R. E., & Whittle, L. F. (2022). Stoicism and death acceptance: Integrating Stoic philosophy in cognitive behaviour therapy for death anxiety. Discover Psychology, 2(1). https://doi.org/10.1007/s44202-022-00023-9.

Shreffler, J., Shreffler, M., Thomas, A. & Huecker, M. (2022). Wise Exertion: Associating Stoic Thought with Stress, Well-Being, and Life Satisfaction in Physicians. American Journal Of Lifestyle Medicine, 155982762211207. https://doi.org/10.1177/15598276221120785

Whiting, K., Konstantakos, L., Carrasco, A. & Carmona, L. (2018). Sustainable Development, Wellbeing and Material Consumption: A Stoic Perspective. Sustainability, 10(2), 474. https://doi.org/10.3390/su10020474

Titelbildquelle

Foto von Alex Harmuth (2021) auf Unsplash. Abgerufen am 04.08.2024. https://unsplash.com/de/fotos/frau-in-weissem-kleid-figur-qI7S2F5hADM

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