Einführung
Es gibt Menschen, die überdurchschnittlich gut Gesichter wiedererkennen können. Sie werden unter anderem bei der Polizei eingesetzt und führen zu zahlreichen Fahndungstreffern. Lässt sich dieses Phänomen wissenschaftlich belegen?
Russell et al. berichten bezüglich ihrer Forschung zum Thema der entwicklungsbedingten Prosopagnosie („Gesichtsblindheit“), dass sich im Zuge der Untersuchungen mehrere Personen meldeten, die behaupteten, im Gegenteil besonders gut bei der Gesichtserkennung zu sein. Es wurden drei Personen (CS, weiblich, 26, Doktorandin; CL, weiblich, 40, Hausfrau; JJ, weiblich, 36, Verwaltungsangestellte) sowie eine weitere Person (MR, männlich, 31, Programmierer) untersucht. Alle vier gaben an, besonders gut bei der Gesichtserkennung zu sein und Menschen auch nach Jahren noch wiederzuerkennen. Weitere Beispiele waren das Wiedererkennen von Schauspielern (egal wie bekannt) oder auch unangenehmere Situationen, weil sie ihr Gegenüber ansprachen, dies sie aber überhaupt nicht zuordnen konnte (Russell et al., 2009, S. 2). Diese Angaben interessierten die Forschenden so, dass sie mehrere standardisierte Tests zur Gesichtserkennung mit den vier genannten Personen durchführten. Gesichtserkennung ist ein stabiler Trait mit neurobiologischer Basis und kann daher zuverlässig gemessen werden (Dunn et al., 2020, S. 1).
Dies waren der Before They Were Famous – Test (BTWF) und der Cambridge Face Memory Test (CFMT). Beim BTWF werden 56 ältere Fotografien von Prominenten vorgelegt, die zumeist aus der Zeit vor ihrer Bekanntheit stammen. In diesem Fall sogar aus der Kindheit. Ziel ist, sie dennoch zu identifizieren. Beim CFMT geht es darum, dass sechs den Teilnehmenden unbekannte männliche Gesichter aus je drei Blickwinkeln vorgelegt werden. Im Test sollen die Gesichter zugeordnet werden, obwohl sie beispielsweise durch Belichtung oder optischer Ablenkung verfremdet werden. Bei beiden Tests kann eine Bewertung der Gesichtserkennungsfähigkeit in unterdurchschnittlich bis super erfolgen. In Vergleich zur Kontrollgruppe (n=25, M=30 Jahre) schnitten die vier Personen deutlich besser ab; sie blieben bis auf MR (1x Fehler) fehlerfrei. Die Effektstärke zeigte sehr hohe Werte für alle Tests (d(CFMT) = 2,94; d(BTWF) = 3,57). Die vier Teilnehmenden wurden „Super-Recognizer“ getauft (Russell et al., 2009, S. 2–3). Etwa 2-3 % der Bevölkerung könnten diese überdurchschnittliche Fähigkeit besitzen (Dunn et al., 2020, S. 2).
Praktische Anwendung des Phänomens
Menschen mit diesen Fähigkeiten sind für die Polizei besonders nützlich. Bei der London Metropolitan Police wurden z.B. nach Ausschreitungen Überwachungsvideos gesichtet. Hierbei fiel auf, dass manche Polizeibeamte extrem hohe Wiedererkennungsraten zeigten; so konnte ein einzelner Polizeibeamter 190 Beschuldigte identifizieren. In anderen Situationen konnte eine Festnahme durch Wiedererkennen nach mehreren Jahren erfolgen, die beteiligten Beamten gaben meist an, besonders markante und einzigartige Gesichtsmerkmale (wie Narben etc.) zu erkennen. Dies gilt auch für Tatverdächtige, die die beteiligten Beamten zuvor nie persönlich getroffen hatten (Davis & Jansari, 2013, S. 726–728; Davis et al., 2016).
Ein Polizeibeamter der Bundespolizei, der nach einem Test der Universität Greenwich und Universität Kiel als Super-Recognizer ermittelt worden war, gibt über seine Arbeit folgendes an: er sähe die betreffende Person so, als würde sie „aus der Masse herausstechen“. Seine Fehlerquote sei sehr gering, bei 100 Personen in einem Jahr nur zwei Fehler. Er selbst gibt aber an, dass er sich bei Videobildern nicht so sicher ist, wie in persona (von Bresinski, 2019, S. 51).
Kritik und Limitation
Psychologische Limitation: Neben diesen sehr positiv wirkenden Erfolgsquoten für die Kriminalitätsbekämpfung gibt es auch diverse Kritikpunkte, so beispielsweise zur Konsistenz der Fähigkeit: In einer Studie mit 30 Polizeibeamten, die in einem der Gesichtserkennungstests sehr gut abgeschnitten hatten, wurde eben diese Limitation der Fähigkeit festgestellt: die überdurchschnittlich guten Ergebnisse waren nicht konsistent. In verschiedenen Tests, die mathematisch belegbar korreliert waren, konnten die Teilnehmenden das hohe Niveau der Ergebnisse nicht dauerhaft halten. Die Autoren betonen daher, dass eine Auswahl des Personals keinesfalls nur mit einem Test erfolgen kann. Insbesondere lag eine Differenz in den Ergebnissen bei Erkennung einzelner Gesichter (z.B. CFMT) und der Identifizierung aus einer Menschenmenge, Crowds Test, vor (Bate et al., 2019, S. 12). Es scheint gerade hier einen wichtigen Punkt zu geben, da im polizeilichen Alltag z.B. bei Demonstrationen oder an Bahnhöfen etc. oft ein hohes Personenaufkommen herrscht. Werden die Super-Recognizer dann eingesetzt, um Personen über Videoanlagen zu identifizieren, wirkt die Personalauswahl anhand des CFMT nicht gerade sinnvoll. Die Einsatzsituation würde eher dem Crowds Test als dem CFMT entsprechen, da der praktische Bezug des CFMT dann überhaupt nicht mehr gegeben ist. Die hohe Differenz in den Ergebnissen zwischen den Tests spricht dafür.
Es scheint daher sinnvoll, entweder gleich mehrere Auswahltests zu verwenden und damit den Personenkreis weiter zu beschränken, aber universell einsetzbare Kräfte zu erhalten, oder aber die Fertigkeiten situationsbezogen zu bestimmen und das Personal für unterschiedliche Lagen getrennt einzusetzen.
Rechtliche Limitiation: Der Bundesgerichtshof (BGH, 2024, Az.: 5 StR 21/24, S. 5) hat entschieden, dass die Identifizierung eines Tatverdächtigen durch Super-Recognizer (die die psychologischen Tests absolviert und bestanden hatten) als Beweis für die Täterschaft alleine nicht ausreichend sind. Sie sind nur so wie eine herkömmliche Zeugenaussage zu bewerten.
Fazit
Die Fähigkeit der überdurchschnittlichen Gesichtserkennung kann insbesondere für Polizeibehörden sehr sinnvoll eingesetzt werden und zu einer nachhaltigen Erkennung flüchtiger Straftäter sorgen. Jedoch ist dabei zu beachten, dass das Phänomen nur wenig erforscht ist und die meisten Studien sich mit Polizeibeamten als Teilnehmende befassen. Es ist daher eine Generalisierbarkeit fraglich.
Außerdem liegt eine Inkonsistenz verschiedener Tests vor, sodass eine wirklich sinnvolle Personalauswahl nur durch die Absolvierung diverser Tests möglich scheint. Ramon schlägt vor, das Prädikät „Super-Recognizer“ eben nur bei konsistenten Ergebnissen in diversen Tests, die korreliert sind, zu vergeben (Ramon, 2021, S. 3). Zudem ist immer auch auf das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung zu achten, sodass rechtskräftige Beweise neben der Erkennung durch Super-Recognizer zur Verurteilung vorliegen müssen – dies ist aber ohnehin Aufgabe der Gerichte.
Abkürzungsverzeichnis
BTWF Before They Were Famous – Test
CFMT Cambridge Face Memory Test
Literaturverzeichnis
Bundesgerichtshof (BGH, 2024, Az.:5 StR 21/24). ECLI:DE:BGH:2024:240424B5STR21.24.0. https://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE604102024&psml=bsjrsprod.psml&max=true
Bate, S., Frowd, C., Bennetts, R., Hasshim, N., Portch, E., Murray, E. & Dudfield, G. (2019). The consistency of superior face recognition skills in police officers. Applied Cognitive Psychology, 33(5), 828–842. https://doi.org/10.1002/acp.3525
Davis, J. P. & Jansari, A. (2013). I never forget a face. The Psychologst, 26. https://www.superrecognisers.com/publications
Davis, J. P., Lander, K., Evans, R. & Jansari, A. (2016). Investigating Predictors of Superior Face Recognition Ability in Police Super‐recognisers. Applied Cognitive Psychology, 30(6), 827–840. https://doi.org/10.1002/acp.3260
Dunn, J. D., Summersby, S., Towler, A., Davis, J. P. & White, D. (2020). UNSW Face Test: A screening tool for super-recognizers. PloS one, 15(11), e0241747. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0241747
Ramon, M. (2021). Super-Recognizers – a novel diagnostic framework, 70 cases, and guidelines for future work. Neuropsychologia, 158, 107809. https://doi.org/10.1016/j.neuropsychologia.2021.107809
Russell, R., Duchaine, B. & Nakayama, K. (2009). Super-recognizers: people with extraordinary face recognition ability. Psychonomic bulletin & review, 16(2), 252–257. https://doi.org/10.3758/PBR.16.2.252
von Bresinski, R. (2019). Der Super-Recognizer: Ein kurzer Blick reicht. Bundespolizei kompakt(5), 50–51. https://www.bundespolizei.de/Web/DE/04Aktuelles/05Kompakt/Ab-03-2019/2019/05/6_der_super_recognizer.html
Abbildungsverzeichnis
Beitragsbild: Tardging, P. (2024). AI generated Police Officer Monitoring Security Cameras with AI generated. Vecteezy.com. Abgerufen am 18.09.2024. https://www.vecteezy.com/photo/39191202-ai-generated-police-officer-monitoring-security-cameras-with-ai-generated