By Published On: 12. Februar 2023Categories: Digitalisierung, Kommunikation, Technologie

Psychologische Entlastung als Instagram-Abonnement – das klingt zunächst paradox.

So sind soziale Medien doch in ihrem Design so ausgelegt, dass wir ihnen nicht widerstehen können, sie unser Konsumverhalten analysieren und unkontrolliert in ihren Bann ziehen. Dennoch finden wir immer mehr psychologische Inhalte auf Kanälen wie Instagram, YouTube und TikTok, in Form von Memes, Kurztexten oder 15-Sekunden-Videos.

Schaden soziale Medien uns folglich oder können sie unser emotionales Wohlbefinden sogar fördern?

milennial.therapist, the.holistic.psychologist, Therapy in a Nutshell, Andrew Huberman – die Liste von Psychologen und Neurowissenschaftlern, die soziale Medien zur Verbreitung von Gesundheitsinformationen nutzen scheint endlos. (Quelle: Eigene Zusammenstellung)

Das Spiel von Erwartung und Belohnung

Wir scrollen, liken und kommentieren. Und das oft täglich für mehrere Stunden. 

Denn wir wollen dazugehören, unsere Einzigartigkeit zur Schau stellen, nichts verpassen und Emotionen und Stimmungen regulieren. Die Algorithmen der sozialen Medien setzen auf diese menschliche Grundbedürfnisse und nutzen sie zu kommerziellen Zwecken. 

Unser Drang nach sofortiger Befriedigung und Belohnung (‚Instant Gratification‘) geht auf basale Gehirnstrukturen und zentralnervöse Reaktionen zurück. Design- und Programmelemente der sozialen Medien verstärken den bittersüßen Kreislauf von Erwartung und Belohnung. Als Nutzer weiß man, dass eine Belohnung in Form eines besonders unterhaltsamen Posts oder Videos auf einen wartet. Was man nicht weiß, ist, wann genau diese kommt, was eine starke Dopamin-Reaktion hervorruft. Damit gleicht unser Nutzerverhalten der Spielsucht und wird problematisch (Bray, 2020). Wir bleiben solange online, bis wir die Belohnung erhalten, die unser Gehirn unbewusst sucht. 

Besonders anfällig sind Individuen mit ungesundem oder unerprobtem Regulierungsverhalten. Oft sind vor allem Teenager betroffen, da sie noch nicht die Reife besitzen, sich ihrer ungesunden Gewohnheiten bewusst zu machen (Nadkarni & Hoffmann, 2012).

72% der Amerikaner nutzen mindestens eine Social Media Seite. (Quelle: Pew Research Center, 2020).

Permanently Online als Suchtverhalten

Die Statistiken des Pew Research Center (2020) zeigen, dass 72% der Amerikaner mindestens eine Social Media Seite nutzen – Facebook, Instagram und YouTube sind die beliebtesten Kanäle. Der typische Nutzer ist jung und weiblich.

Forscher der HarvardUniversität weisen darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und der mentalen Gesundheit nicht mit herkömmlichen Dosis-Wirkungs-Ansätzen erklärt werden kann, sondern eine differenziertere Betrachtung und Messung erfordert. Manch einer nutzt Twitter, um News zu erhalten, die die Massenmedien nicht berichten. LinkedIn ist hilfreich, um den eigenen beruflichen Werdegang zu gestalten und Netzwerke auszubauen.

Dennoch wird geschätzt, dass 5-10% der Erwachsene soziale Medien auf problematische Weise nutzen und 10% der jungen Studierenden abhängig sind (Bray, 2020). 

Psychoedukation kann ein Spiegel des eigenen Verhaltens sein. (Quelle: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay)

Gesundheitsfördernde Faktoren der sozialen Medien

Vor diesem Hintergrund ist es kaum vorstellbar, dass soziale Medien auch in gewissem Ausmaß gesundheitsfördernd sein können.

Was sind im Kontext der Psychologie positive Seiten der sozialen Medien?

  • Enttabuisierung: Soziale Medien können Themen in den öffentlichen oder zwischenmenschlichen Austausch bringen, die sonst gemieden werden, indem sie Inhalte in einen persönlichen Kontext rücken. So zeigt Instagram im Einklang mit der Bewegung zu positivem Denken eine Vielfalt an diversen, inspirierenden Schnappschüssen von Menschen weltweit, motivierenden Bildzitaten und textreichen Erfahrungsposts (Lindgren & Johansson, 2021).
  • Reichweite: Die anonyme Nutzung ermöglicht mehr Menschen einen leichteren Einstieg zu Fragen und Informationen rund um Themen der mentalen Gesundheit (Abrams, 2021). Weiter fand Woods (2018) heraus, dass therapeutische Patienten oft online zu medizinischen Behandlungen recherchieren und somit im Therapieverlauf informiertere Entscheidungen treffen können. In einer anderen, eher unkonventionellen Studie wurde Facebook sogar als Plattform identifiziert, um Schüler freiwillig auf depressive Stimmungsbilder zu testen (Youn, Trinh, Shyu, Chang, Fava, Kvedar & Yeung, 2013).
  • Identifikation: Soziale Medien ermöglichen außerdem den Austausch mit Gesundheitsdienstleistern und Beratern mit hohem Identifikationspotenzial (Watson, Prosek & Giordano, 2020; Youn, Trinh, Shyu, Chang, Fava, Kvedar & Yeung, 2013). Jeder Einzelne kann sich online repräsentiert fühlen, unabhängig von dem eigenen Geschlecht, dem Alter, der Kultur oder dem Bildungsniveau. Ein Teenager gesteht sich eher eine Essstörung ein, wenn er oder sie online die Leidensgeschichte eines gleichaltrigen Internetstars erlebt, der diese Krise bereits überwunden habe. Symptomatiken, Behandlungsoptionen und alternative Bewältigungsmechansimen können offen und anonym aus der eigenen Komfortzone heraus erkundet und diskutiert werden (Youn, Trinh, Shyu, Chang, Fava, Kvedar & Yeung, 2013).
  • Psychoedukation: Für Süchtige oder Suchtanfällige ist es außerdem wichtig zu verstehen, wie soziale Medien Störungs- und Krankheitsbilder beeinflussen. Über Psychoedukation können Experten und Influencer erklären, wie die Nutzung sozialer Medien unser Dopamin beeinflusst und wie beispielsweise bereits Notifikationen zu neuen Nachrichten unsere Aufmerksamkeit bündeln. Einfache Strategien wie physischer Abstand von Geräten oder auch limitierte Nutzung bestimmter Seiten durch Software wie Offtime oder Freedom können angewandt werden, um problematisches Nutzerverhalten bei Depressionen, Ängsten oder Stress zu reduzieren (Watson, Prosek & Giordano, 2020).

Was Instagram & Co. können und nicht können

Trotz gesundheitsfördernder Faktoren lässt sich feststellen: Insta-Therapie gibt es nicht. Die psychotherapeutische Erfahrung von der Diagnose bis zur Behandlung baut auf individualisierter Beobachtung und dem Aufbau eines Vertrauens- und Beziehungsverhältnis zwischen Patienten und professionellen Therapeuten auf.

Doch sind soziale Medien nicht nur schädigend. Wenn Experten diese Kanäle wirksam nutzen, können sie für die breite Masse mentales Wohlbefinden und psychische Störungen näher beleuchten, Betroffene und ihr Umfeld auf Symptomatiken aufmerksam machen, die Debatte zu mentaler Gesundheit enttabuisieren und Therapie für junge Generationen als heilende Erfahrung greifbar machen. Weder das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) noch die World Health Organization definieren übrigens bislang diagnostische Kriterien für Social-Media-Sucht. Umso wichtiger ist eine fortlaufende und differenzierte Auseinandersetzung mit den schädigenden und positiven Effekten der sozialen Mediennutzung, persönlich wie in der Wissenschaft.


Literatur

Abrams, Z. (2021). Social media is increasing impact. 2021 Trends Report, 52 (1), 47.

Bray, B. (2020). Helping clients develop a healthy relationship with social media. Counseling Today. Zugriff am 11.01.2023, Verfügbar unter https://ct.counseling.org/2020/09/helping-clients-develop-a-healthy-relationship-with-social-media/

Lindgren, S., & Johansson, A. (2021). Getting Better? Hegemonic, Negotiated and Oppositional Uses of Instagram for Mental Health Support. Journal of Communication Inquiry, 1, 1-23.

Nadkarni, A., & Hofmann, S. G. (2012). Why do people use Facebook? Personality and Individual Differences, 52, 243-249.

Pew Research Center (2021). Social Media Fact Sheet. Zugriff am 11.01.2023, Verfügbar unter https://www.pewresearch.org/internet/fact-sheet/social-media/? menuItem=d102dcb7-e8a1-42cd-a04e-ee442f81505a

Watson, J. C., Prosek, E. A., & Giordano, A. L. (2020). Investigating Psychometric Properties of Social Media Addiction Measures Among Adolescents. Journal of Counseling & Development, 98(4), 458-466.

Woods, J. A. (2016). Social Media and Web-Based Interventions as a Therapeutic Tool   for Young Adults With Psychotic Disorders. American Journal of Psychiatry Residents‘ Journal, 11(12), 10-11.

Youn, S. J., Trinh, N. H., Shyu, I., Chang, T., Fava, M., Kvedar, J., & Yeung, A. (2013).    Using online social media, Facebook, in screening for major depressive disorder among college students. In International Journal of Clinical and Health Psychology, 13(1), 74-80.

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