Triebfedern der Gewalt – wie Kriegsverbrechen möglich werden
Folter, Exekutionen und Vergewaltigungen – die Nachrichten aus der Ukraine zu Gräueltaten durch russische Soldaten schockieren in diesem Jahr die Welt. Die Gewalt richtete sich nicht nur gegen ukrainische Soldaten und Soldatinnen, sondern unmittelbar gegen Zivilisten und sogar Kinder. Aber wie kann es dazu kommen, dass Menschen solche Taten verüben?
Gewalt wird definiert als Verhaltensweisen, die eine schwere körperliche Schädigung beabsichtigen, sie können zwischen psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt unterschieden werden (Garms-Homolová 2022, S. 63). In der Psychologie wird Gewalt als Resultat von Interaktionen gesehen, die auf Gewaltbilligung und Gewaltbereitschaft basieren (NE GmbH | Brockhaus). Entsprechend der Definition der WHO wird „die gegen eine Gruppe oder mehrere Einzelpersonen gerichtete instrumentalisierte physische Gewaltanwendung durch Menschen, die sich als Mitglieder einer anderen Gruppe begreifen und damit politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Ziele durchsetzen wollen“ (Möller-Leimkühler & Bogerts 2013, S. 1345) als kollektive Gewalt bezeichnet, dazu zählen bspw. Aggressionen durch politische Gruppen oder auch Pogrome, Völkermord und Kriege. Kollektive Gewalt basiert auf einem gesellschaftlichen Fundament, konkreter Organisation sowie einem Feindbild und einer rechtfertigenden Ideologie. Wie bei der individuellen physischen Gewalt sind die Täter überwiegend Männer (Möller-Leimkühler & Bogerts 2013, S. 1345).
Die Gewaltbereitschaft von Menschen wird unter anderem vom sozialen und politischen Umfeld maßgeblich geprägt (Bogerts 2021, S. 143). Der Militärpsychologe Hubert Annen verweist im Deutschlandfunk-Interview darauf, dass Krieg eine permanente Ausnahmesituation ist: Verletzte oder getötete Kameraden, fehlender Schlaf oder Essen sowie extreme Emotionen und Gewalt durch Kampfhandlungen sind massive Stressfaktoren – oft entwickele sich daraus eine fatale Gruppendynamik (Karkowsky 2022).
Die Zugehörigkeit zu Gruppen beeinflusst Menschen dahingehend, wie die soziale Welt interpretiert wird, was man empfindet und sich anderen gegenüber verhält. In diesem Zusammenhang wird zwischen der Eigengruppe und Fremdgruppe unterschieden. Mitglieder einer Eigengruppe identifizieren sich mit dieser, Fremdgruppen sind alle Gruppen, denen sie nicht angehören (Kessler & Fritsche 2018, S. 114). Diese Selbstkategorisierung zu einer spezifischen Gruppe ist die Basis für die eigene soziale Identität (Stürmer 2009, S. 6).
Innerhalb der Gruppe beeinflussen Normen und Erwartungen sowohl das Verhalten der Mitglieder innerhalb der Gruppe als auch gegenüber anderen Gruppen. Ereignisse und Verhalten werden durch gemeinsame Bezugsrahmen interpretiert und gesteuert, die Beziehungen zur sozialen Umwelt prägen hier die „Identität“ der Gruppe (Stürmer 2009, S. 7). In Bezug auf deutsche Kriegsgefangene im zweiten Weltkrieg kam man zu der Schlussfolgerung, dass diese Männer sich in der Kriegssituationen an der Kameradschaftsgruppe, deren Handlungen und dem militärischen Wertesystem orientierten und diese ausschlaggebend für die Handlungen der Soldaten waren (Bogerts 2021, S. 231). Durch diese Deindividuierung werden persönliche Wertvorstellungen unwichtig und stattdessen situations- oder gruppenspezifische Werte handlungsweisend, die Menschen sich so verhalten lassen, wie man es ihnen nie zutrauen würde (Werth et al. 2020, S. 170–171).
Menschen nehmen zudem unterschiedliche Rollen innerhalb der Gruppe ein. Diese Rollen können dann problematisch sein, wenn damit ein großer Einfluss ausgeübt werden kann. Experimente wie bspw. das Stanford-Prison-Experiment zeigen, dass Macht- und Kontrollbefugnisse erschreckend Hemmschwellen sinken lassen können, andere zu unterdrücken oder zu misshandeln, wenn sich die Möglichkeit dafür ergibt und das Verhalten zudem ungeahndet bleibt. Neuere Forschungen gehen zudem davon aus, dass Gewaltanwendung auch mit einer Normalisierung einhergeht, die aus einer Dynamik zwischen ausführender Person und sozialem Umfeld resultiert (Bogerts 2021, S. 119–121).
Gewaltbereitschaft wird auch durch Dehumanisierung beeinflusst. Dies bedeutet, dass Menschen Angehörige von Gruppen, die sie als verschieden wahrnehmen, als weniger menschlich betrachten und ihnen weniger Empathie gegenbringen (Werth et al. 2020, S. 356–358). Folglich sinken die Hemmungen anderen Menschen zu schaden. Außerdem können Stimmungen und Emotionen innerhalb Gruppe quasi „ansteckend“ sein (Bogerts 2021, S. 230–232). Dieser hedonistische Effekt ist die Hauptmotivation für wiederholte Gruppengewalt (appetitive Gewalt). Gewalt nimmt dabei einen rauschhaften Charakter an, bei dem das Belohnungssystem des Gehirns aktiviert wird und so eine Art Sucht hervorrufen kann (Bogerts 2021, S. 268–269).
Die Anlage zur Gewaltbereitschaft gegenüber einer anderen Gruppe kann als evolutionär bedingt angesehen werden. Ob diese allerdings auch ausgelebt wird, ist abhängig von der Vermittlung und Verankerung ethisch-moralischer Normen sowie individueller und gesellschaftlicher Risikokonstellationen (Möller-Leimkühler & Bogerts 2013, S. 1347). Effektive staatliche Gewaltmonopole vermindern ebenso das Risiko von Gewalt. Dahinter steht die Erwartung der Unrechtsahndung durch die Justiz und Angst vor Strafe. In Systemen, wo dies nicht gegeben ist, kommt Gruppengewalt häufiger vor als in funktionierenden Rechtssystemen (Bogerts 2021, S. 145–146). Hinsichtlich der Begehung von Kriegs-verbrechen ist außerdem auch die Sozialisation und Erziehung der Soldaten innerhalb des militärischen Systems ausschlaggebend.
Der Soldat als (Un-)Mensch – Unterschiede zwischen Bundeswehr und der Armee Russlands
In Deutschland sind Soldaten laut Soldatengesetz verpflichtet, die freiheitlich demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes anzuerkennen, durch ihr gesamtes Verhalten für ihre Erhaltung eintreten und keine Straftaten zu begehen. Die Bundeswehr ist zudem eine Parlamentsarmee, d.h. grundlegende Entscheidungen werden von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages getroffen. Zum Selbstverständnis der Bundeswehr gehört ein Wertekodex: Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie. Sie sind fester Bestandsteil in der Aus- und Weiterbildung der Soldaten (Bundesministerium der Verteidigung). Darüber hinaus sollen Soldaten aber auch lernen, selbst zu denken und nicht nur gehorsam zu folgen. „Die letzte Entscheidungsinstanz bleibt das Gewissen jedes Einzelnen“ (Bundesministerium der Verteidigung). Das Kompetenzzentrum für diese Punkte ist das „Zentrum Innere Führung“ in Koblenz mit über 50 Lehrgangsarten (Bundesministerium der Verteidigung).
In der russischen Armee sind die wichtigen Positionen mit Angehörigen der Geheimdienste oder anderer Gewaltorganisationen besetzt. Diese haben unterschiedliche Eigeninteressen und „teilen ein autoritäres, militarisiertes, antiliberales und antidemokratisches Weltbild“ (Sapper 2022). Der Historiker und Gewaltforscher Jan Claas Behrends betont die Dysfunktionalität der Armee und das schlechte Verhältnis zwischen Mannschaften und Offizieren: „Jede Armee ist als wichtige Institution auch Abbild ihrer Gesellschaft. Die post-sowjetische Armee bildet ab, was man aus dem Putinschen Staat kennt: Korruption und hohe Dysfunktionalität. Es ist eine schwache Institution, die ihre eigenen Regeln nicht durchsetzen kann. Das Verhältnis in den Hierarchien ist schlecht. Auch die Menschenrechte der Wehrpflichtigen werden vom Einzug an grob missachtet.“ (Brändlin 2022). In der russischen Armee steht die ‚Dedowschtschina‘ für eine brutale Tradition, bei der Rekruten durch Dienstältere exzessiv körperlich und psychisch schikaniert werden. Schwere Verletzungen stellen keine Seltenheit dar, auch zahlreiche Selbsttötungen von Rekruten werden berichtet. Ein Großteil der Vorgesetzen ignoriert allerdings diesen Missbrauch und ist sogar der Überzeugung, dass dies ein wirksames Mittel sei, die Disziplin aufrecht zu erhalten. Der Militärpsychologe Hubert Annen stellt dazu fest: „Führungsautorität beruht in der russischen Armee auf Befehlsgewalt und meint damit Gewalt im wörtlichen Sinn. Gewalt wird dadurch selbstverständlicher“ (Geiser 2022). Behrends macht darauf aufmerksam, dass es ein historisches Muster von Gewalt durch die russische Armee gibt und die Erfahrung zeigt, „dass Gewalttäter in den eigenen Reihen durch russische Gerichte nicht bestraft werden. Das geschah weder in Afghanistan, noch in Tschetschenien.“ (Brändlin 2022). Für die Politikwissenschaftlerin Leandra Bias spielt die Organisationstruktur der Armee eine große Rolle. „Wenn vom Kommando her wirklich klar kommuniziert würde, dass Vergewaltigungen ein totales Tabu sind, dann hätte das eine wichtige Signalwirkung. Das fehlt oft. Aber wir wissen auch, dass sexualisierte Gewalt befördert wird, wenn es keinen Zusammenhalt gibt innerhalb der Armee, weil sie dann durchaus auch die Rolle erfüllt von Gruppenbildung oder der Initiierung neuer Rekruten.“ (Geissler 2022).
Die Gefahr von kollektiver Gewalt in Form von Kriegsverbrechen besteht in seiner Wirkung auf das Belohnungssystem des Gehirns. Empfinden Täter dabei ein erhebendes Selbstwertgefühl oder erleben dies sogar als berauschend, werden sie die nächste Gelegenheit erneut nutzen. Anfällig dafür sind vor allem Menschen, die ihr Belohnungssystem nicht durch soziale Erfolge aktivieren können (Bogerts 2021, S. 268–269). Dies betrifft insbesondere die soziale Struktur der russischen Armee, die nicht die der Gesellschaft repräsentiert. Sie ist ein Ort für die „Abgehängten“ aus sozial schwachen Schichten, ethnischen Gruppen und Randgebieten des Landes. Die Armee bietet diesen Menschen mitunter den einzigen Weg aus Armut und Perspektivlosigkeit (Sapper 2022).
Kollektive Gewalt existiert zudem schon allein evolutionsbedingt und kann immer wieder spontan entstehen. Durch intensive kulturelle Anstrengungen, Bildung, Erziehung und der Vermittlung prosozialer Werte kann dem jedoch entgegen gewirkt werden (Bogerts 2021, S. 268–269). Auf Russland bezogen, erfordert dies allerdings ein Umdenken in der russischen Militärführung und der Gesellschaft. Obrigkeitsdenken und Gehorsam sind tief verankert, kritisches Denken wird weder im familiären noch schulischen Umfeld gefördert. Ob daher ein ähnliches Wertesystem wie in westlichen Armee etablierbar ist, darf daher bezweifelt werden.
Fazit
Die Gewaltbereitschaft von Menschen wird unter anderem vom sozialen und politischen Umfeld maßgeblich geprägt. Im Krieg sind individuelle soziale Normen oft außer Kraft gesetzt, Soldaten stehen in extremen Ausnahmesituationen und unterliegen dem Einfluss von Emotionen und dem Druck der Gruppe. In diesem Kontext findet eine Kategorisierung in Eigen- und Fremdgruppe statt. Mitglieder anderer Gruppen werden dehumanisiert und entmenschlicht, dies bildet den Keim für potenzielle Gewalttaten. Fehlende Werte und Leitbilder, kritische soziale und organisationale Strukturen innerhalb der russischen Armee, historisch verankerte Nicht-Sanktionierung von Gewalt und Fehlverhalten bis hin zur Unterstützung von systematischen Kriegsverbrechen durch die Führungsebenen lassen aus vormals ganz normalen Männern Täter werden.
Literatur
Bogerts, Bernhard (2021): Woher kommt Gewalt? Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.
Brändlin, Roger (2022): Russische Kriegsverbrechen – «Butscha zeigt historisches Muster der russischen Armee». Schweizer Radio und Fernsehen, 04.04.2022. Online verfügbar unter https://www.srf.ch/news/international/russische-kriegsverbrechen-butscha-zeigt-historisches-muster-der-russischen-armee, zuletzt geprüft am 12.11.2022.
Bundesministerium der Verteidigung (Hg.): Das Konzept der Inneren Führung. Bundesministerium der Verteidigung. Online verfügbar unter https://www.bmvg.de/de/themen/verteidigung/innere-fuehrung/das-konzept, zuletzt geprüft am 11.11.2022.
Bundesministerium der Verteidigung (Hg.): Über die Bundeswehr. Selbstverständnis der Bundeswehr. Bundesministerium der Verteidigung. Online verfügbar unter https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr, zuletzt geprüft am 11.11.2022.
Garms-Homolová, Vjenka (2022): Aggression und Gewalt. In: Vjenka Garms-Homolová (Hg.): Sozialpsychologie der Zuneigung, Aufopferung und Gewalt. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg (Psychologie für Studium und Beruf), S. 61–86.
Geiser, Eveline (2022): Ein Militärpsychologe zu den Greueltaten in der Ukraine: «Die Ausnahmesituation eines Krieges kann aus einem Menschen fast alles machen». Neue Zürcher Zeitung. Online verfügbar unter https://www.nzz.ch/wissenschaft/militaerpsychologe-zu-den-graeueltaten-in-der-ukraine-ich-bin-leider-ueberhaupt-nicht-ueberrascht-ld.1678804, zuletzt aktualisiert am 12.04.2022, zuletzt geprüft am 11.11.2022.
Geissler, Zoe (2022): Vergewaltigungen im Krieg. Sexuelle Gewalt: «Wer weiblich ist, wird zur Zielscheibe». Schweizer Radio und Fernsehen, 19.04.2022. Online verfügbar unter https://www.srf.ch/news/international/vergewaltigungen-im-krieg-sexuelle-gewalt-wer-weiblich-ist-wird-zur-zielscheibe, zuletzt geprüft am 12.11.2022.
Karkowsky, Stephan (2022): „Jeder kann zum Täter werden“. Militärpsychologe über Kriegsverbrechen. Hubert Annen im Gespräch mit Stephan Karkowsky. Deutschlandradio, 21.09.2022. Online verfügbar unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/kriegsverbrechen-psychologie-der-enthemmung-100.html, zuletzt geprüft am 11.11.22.
Kessler, Thomas; Fritsche, Immo (2018): Sozialpsychologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Möller-Leimkühler, A. M.; Bogerts, B. (2013): Kollektive Gewalt : Neurobiologische, psychosoziale und gesellschaftliche Bedingungen. In: Der Nervenarzt 84 (11), 1345-54, 1356-8. DOI: 10.1007/s00115-013-3856-y .
NE GmbH | Brockhaus (Hg.): Gewalt (Brockhaus Enzyklopädie Online). Online verfügbar unter https://brockhaus-de.ezproxy.hwr-berlin.de/ecs/permalink/5F4C9799FBB21A85FDF63E08B5D47594.pdf, zuletzt geprüft am 22.04.22.
Sapper, Manfred (2022): Die Armee einer remilitarisierten Gesellschaft. Hg. v. Hamburger Institut für Sozialforschung. Hamburger Institut für Sozialforschung. Online verfügbar unter https://www.soziopolis.de/die-armee-einer-remilitarisierten-gesellschaft.html, zuletzt aktualisiert am 09.05.2022, zuletzt geprüft am 11.11.2022.
Stürmer, Stefan (2009): Sozialpsychologie. Mit 3 Tabellen und 48 Übungsaufgaben. München, Basel: Reinhardt.
Werth, Lioba; Seibt, Beate; Mayer, Jennifer (2020): Sozialpsychologie – Der Mensch in sozialen Beziehungen. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.
Bildquelle
Photo by Alexander Jawfox on Unsplash, https://unsplash.com/photos/R_6kw7NUTLY, abgerufen am 13.11.2022