By Published On: 20. November 2022Categories: Psychologie, Wirtschaft

99% der Familien, in denen 6- bis 13-Jährige aufwachsen, besitzen Mobiltelefone. Das Handy ist aus unserem Leben – und somit auch aus dem Leben unserer Kinder – nicht mehr wegzudenken (Feierabend et al. 2021, S. 35).

31 Minuten pro Tag benutzen Kinder zwischen 8 und 13 Jahren im Durchschnitt ihr Smartphone, insbesondere bei den 11–13-Jährigen ist das Smartphone mit durchschnittlich 51 Minuten beliebt (Krebs & Rynkowski 2019, S. 16–17). Nicht nur besorgte Eltern fragen sich: ist das normal? Auch die Wissenschaft beschäftigt sich zunehmend mit der Smartphonesucht – in der psychotherapeutischen Praxis ist das Phänomen schon längst angekommen. Allerdings ist bisher keine klare Abgrenzung zum pathologischen Gebrauch erfolgt und fest definiert, wann die extreme Smartphone-Nutzung ein Suchtverhalten darstellt. Dementsprechend ist aktuell auch noch kein Code im Klassifizierungssystem ICD-10 verzeichnet (Montag 2018, S. 11–12).


Abbildung 1: Handynutzung 6 bis 13-Jährige (Quelle: Feierabend et al. 2021, eigene Darstellung )
Abbildung 1: Handynutzung 6 bis 13-Jährige (Quelle: Feierabend et al. 2021, eigene Darstellung )

Erste diagnostische Kriterien liefert zunächst die Smartphone Addiction Scale (SPAS) mit fünf primären Symptomen

  • Ignorieren nachteiliger Folgen
  • Sehr häufiges Nachdenken über die Nutzung des Smartphones
  • Kontrollverluste über das Verlangen nach dem Smartphone 
  • Produktivitätsverlust und Angst  (Eichenberg 2021, S. 324)

Aufgrund der Ähnlichkeit zur Internetsucht kann auch die Skala zum Online-Suchtverhalten (OSV-S) eine erste Einschätzung liefern. Angeführt sind hier bspw. die übernormale Beschäftigung mit dem Internet, die mit schwindendem Interesse an früheren Hobbys und sozialen Bindungen einhergeht. Wesentlich ist, dass Personen ihr Nutzungsverhalten nicht kontrollieren können, obwohl sie wissen, dass daraus psychosoziale Probleme entstehen und dass sie Familienmitglieder oder Therapeuten über die Nutzungsintensität täuschen (Eichenberg 2021, S. 323–324).

Problematisch ist, dass diese Diagnoseinstrumente zwar für Erwachsene geeignet sind, jedoch nicht den Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen berücksichtigen. Ob Kriterien wie Kontrollverlust und das Ignorieren nachteiliger Folgen als Diagnosekriterien für Kinder zielführend sind, darf bezweifelt werden (Rumpf et al. 2020, S. 300–301).

Typisch für Smartphonesucht: Gereiztheit

Die Forschung zur Smartphonesucht bei Kindern und Jugendlichen steht erst am Beginn. Geht man von den Symptomen bei Erwachsenen aus, lassen diese allerdings keine optimistischen Hoffnungen aufkommen. Es gilt als nachgewiesen, dass extreme Smartphonenutzung im kognitiven Bereich zu Impulsivität, Problemen bei der Emotionsregulation, Störungen bei kognitiven Funktionen und geringem Selbstwertgefühl führen kann. Körperliche Beschwerden äußern sich in Schlafstörungen, reduzierter Fitness, ungesunden Essgewohnheiten sowie Schmerzen und Migräne. Im MRT konnten Änderungen im Volumen der grauen Substanz des Gehirns im Frontalhirn nachgewiesen werden (Voitl 2021, S. 684).

Darüber hinaus zeigen Untersuchungen, dass nach einer dreimonatigen Smartphonenutzung die Testteilnehmer bei der Lösung von arithmetischen Aufgaben schlecht abschnitten und stärker auf soziale Zurückweisung reagierten (Hadar et al. 2017, S. 12). Zudem kann eine exzessive Nutzung zu ADHS-ähnlichen Symptomen bei gesunden Probanden führen (Montag 2018, S. 24).

Empirische Forschungsergebnisse deuten zudem auf einen Zusammenhang zwischen Social-Media-Nutzung und depressiven Symptomen bei Kindern und Jugendlichen hin (Kreutzer 2020, S. 110–111).

Nomo… WHAT?

Mit der Smartphonesucht eng verbunden sind Phänomene wie FOMO („fear of missing out“) und die Nomophobie („no mobile phobia“). Letztere bezeichnet die Trennungsangst vom Smartphone, während der Begriff FOMO für die zwangsartige Angst steht, etwas Wichtiges oder Spannendes zu verpassen. Beide Phänomene sind durch das Bedürfnis charakterisiert jederzeit erreichbar zu sein (Voitl 2021, S. 684).

Smartphone-Sucht nimmt vor allem unter Heranwachsenden permanent zu. Studienergebnisse zum Vorkommen sind allerdings interkulturell verschieden und schwanken je nach Messinstrument und Stichprobe. Eichenberg ermittelte für Studierende in Österreich beispielsweise eine Rate von 15,1% (Eichenberg 2021, S. 324).

Wie entsteht Smartphone-Sucht?

Die Entstehung einer Smartphone-Sucht wird auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt

1.) Konditionierung

Nach der Konditionierungstheorie entwickeln sich bestimmte typische Situationen, bei denen das Smartphone gezückt wird, zu sogenannten Hinweisreizen, die zu einem automatisiertem Verhalten führen (Bsp: beim Warten auf den Bus wird automatisch auf das Handy geschaut). Dieser Reflex wird verstärkt, indem das Gehirn durch WhatsApp-Nachrichten, Mails oder Likes in Social-Media-Apps eine Belohnung erfährt. Das Gehirn lernt dieses Verhalten schnell, das Verlernen hingegen ist jedoch vergleichsweise schwer (Montag 2018, S. 15–17).

2.) Bindungsstörungen

Die Bindungstheorie beschreibt, wie die Entwicklung von Kindern durch emotionale Beziehungen zu ihren Bezugspersonen geprägt ist. Sie liefert auch eine Erklärung für die Ausprägung sozialer Beziehungen und Anfälligkeiten für psychische Erkrankungen im weiteren Lebensverlauf. Untersuchungen zeigen, dass vor allem unsicher-ambivalente Bindungstypen mit auffälliger Internetnutzung verbunden waren (Eichenberg et al. 2019, S. 3).

3.) Persönlichkeit

In Bezug auf die Persönlichkeit stellte sich heraus, dass smartphonesüchtige Studienteilnehmer im Vergleich zu nicht-süchtigen Nutzern in den Dimensionen Extraversion und Neurotizimus deutlich höhere Werte aufwiesen. Beim Zusammenhang von Smartphonesucht und psychischer Belastung zeigte sich, dass dies auch für die Ebenen Depressivität, Ängstlichkeit und Somatisierung zutraf. In Folge kann davon ausgegangen werden, dass smartphoneabhängige Nutzer als emotional labiler kategorisiert werden können (Eichenberg 2021, S. 327).

Nackenschmerzen und Kurzsichtigkeit? Zu viel Smartphone!

Eine übermäßige Nutzung von Smartphone oder Tablet verstärkt den Bewegungsmangel insbesondere bei Schulkindern und kann zu körperlichen Problemen wie Übergewicht oder Osteoporose führen (Kreutzer 2020, S. 105). Auch Nacken- und Muskelschmerzen, Schlafstörungen und Augenprobleme sind Auswirkungen der Smartphonesucht (Eichenberg 2021, S. 324). So sind in den großen Städten Asiens bereits über 95 % der jungen Bevölkerung durch intensive Smartphonenutzung kurzsichtig, in Europa und den USA rund 50 % – als Folge entstehen beträchtliche Kosten für das Gesundheitssystem (Kreutzer 2020, S. 113).

Kennen Sie die Smombie-Ampel? Sie zeigt auf bittere Weise, wohin die übermäßige Abhängigkeit und leichtsinnige Nutzung des Handys im Alltag führen kann. Smombie war das Jugendwort des Jahres 2015 und beschreibt einen Smartphone-Süchtigen als Smartphone-Zombie. Um diese Menschen im Straßenverkehr zu schützen, wurden 2016 in Köln, Augsburg und Karlsruhe in den Bürgersteig eingelassene Bodenampeln als zusätzliches Warn-Element getestet. In China existieren für Smombies teilweise spezielle Spuren auf den Bürgersteigen, um Zusammenstöße mit anderen Verkehrsteilnehmern zu verhindern (Kreutzer 2020, S. 104–105).

Prävention heißt Regulation

Eltern und Bezugspersonen tragen die Verantwortung für eine gesunde Regulation der Handynutzung. Sie sind Vorbilder und dienen Kindern als Modell für angemessenes Verhalten.  Rumpf et al. halten es für entscheidend, dass Eltern dafür sorgen, dass „Kinder adäquate Emotionsregulationsfähigkeiten entwickeln, die nicht mit der Nutzung digitaler Medien zusammenhängen“ (Rumpf et al. 2020, S. 302), diese sind sowohl zur Prävention von Suchterkrankungen als auch für die allgemeine Entwicklung bedeutsam. Insgesamt steckt die Präventionsforschung zur Smartphonesucht allerdings noch in den Kinderschuhen.

Fit for Phone

Digitale Medien und Smartphones sind fester Bestandteil des Lebens. Der Umgang mit ihnen sollte altersabhängig erfolgen. Montag (2018) empfiehlt: „Je jünger die Kinder sind, desto eher sollte der (möglichst komplette) Verzicht des Medienkonsums im Vordergrund stehen. Stattdessen sollten Eltern darauf achten, dass ausreichend soziale Interaktionen zwischen Eltern und ihren Kindern oder zwischen Kindern untereinander mit zahlreichen Spielgelegenheiten geschaffen werden.“ (Montag 2018, S. 33).

Ältere Kinder und Jugendliche müssen einen gesunden Umgang mit dem Smartphone erlernen. Vereinbarungen zu Nutzungsregeln mit dem Handy und der Interaktion in den sozialen Medien, feste Auszeiten und die Förderung von alternativen Beschäftigungen helfen dabei. Die Seite www.klicksafe.de bietet eine Checkliste an, die bei der Einschätzung hilft, ob das eigene Kind “fit” für ein eigenes Smartphone oder Tablet ist (Haese 2020, S. 117).

Fazit

Die Forschung zur Smartphonesucht bei Kindern steht noch am Anfang. Es wird aber davon ausgegangen, dass sich die Symptome im Vergleich zu Erwachsenen ähneln und eine übermäßige Nutzung zu physischen und psychischen Problemen führt. Verbote sind kontraproduktiv, denn das Handy ist mittlerweile ein fester Bestandteil des Alltags und kann auch nützlich sein. Kinder und Jugendliche sollten daher einen „gesunden“ Umgang mit dem Smartphone lernen. Eltern oder Bezugspersonen dienen hier als Vorbild, in der Praxis ist die Aufstellung von Regeln und Grenzen zur Handynutzung ein gutes Hilfsmittel.

Eine kleine Anekdote zum Schluss: Steve Jobs – der Erfinder der iPhones und iPads – hat seinen eigenen Kindern übrigens den Umgang damit verboten. Er hat wohl geahnt warum… (Bolton 2016).


Literatur

Bolton, D. (2016), The reason Steve Jobs didn’t let his children use an iPad, in: https://​www.independent.co.uk​/​tech/​steve-jobs-apple-ipad-children-technology-birthday-a6893216.html, abgerufen am 02.10.22.

Eichenberg, C. (2021), Digitale Mediensüchte: Aktuelles Störungswissen zu Internet- und Smartphonesucht, Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 20. Jg., Nr. 2, S. 321–332.

Eichenberg, C./Schott, M./Schroiff, A. (2019), Comparison of Students With and Without Problematic Smartphone Use in Light of Attachment Style, Frontiers in psychiatry, 10. Jg., S. 1–6.

Feierabend, S./Rathgeb, T./Kheredmand, H./Glöckler, S. (2021), KIM-Studie 2020 Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger, in: https://​de.statista.com​/​statistik/​daten/​studie/​1104/​umfrage/​smartphone-besitz-von-kindern-nach-altersgruppen/​, abgerufen am 2. 10. 2022.

Hadar, A./Hadas, I./Lazarovits, A./Alyagon, U./Eliraz, D./Zangen, A. (2017), Answering the missed call: Initial exploration of cognitive and electrophysiological changes associated with smartphone use and abuse, PloS one, 12. Jg., Nr. 7, e0180094.

Haese, I. (2020), Smartphonekids, Berlin, Heidelberg.

Kreutzer, R. T. (2020), Die digitale Verführung, Wiesbaden.

Montag, C. (Hrsg.) (2018), Homo Digitalis, Wiesbaden.

Rumpf, H.-J./Hoffmann, H./Menrath, I./Paschke, K./Thomasius, R. (2020), ,,Smartphone-Sucht“ bei Kindern und Jugendlichen, SUCHT, 66. Jg., Nr. 6, S. 299–302.

Voitl, P. (2021), Gesundheitliche Folgen exzessiver Smartphone-Verwendung bei Jugendlichen, Monatsschrift Kinderheilkunde : Organ der Deutschen Gesellschaft fur Kinderheilkunde, 169. Jg., Nr. 8, S. 684–685.


Bildquelle

Photo by McKaela Taylor on Unsplash, https://unsplash.com/photos/grhjIuEAb_0, abgerufen am 13.11.2022

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