Viele Menschen möchten Tieren keinen Schaden zufügen, dennoch konsumieren die meisten auch Fleisch. Durch dieses Missverhältnis ihrer Handlungen in Zusammenhang mit ihren Werten, kann es passieren, dass diese Menschen sehr ärgerlich auf Veganer*innen reagieren und hier in einen Konflikt gehen, der Veganer*innen überraschen kann und diese das Gefühl einer Rechtfertigung entwickeln.
Das sogenannte „Fleisch-Paradoxon“ (engl. Meatparadox) beschreibt, wie Menschen Tiere nutzen, indem sie Fleisch essen oder andere Handlungen ausführen, die den Tieren schaden, obwohl sie sich eigentlich um das Wohl der Tiere sorgen und ihnen keinen Schaden zufügen möchten. Es entsteht eine Art innerer Konflikt zwischen den eigenen Überzeugungen und dem tatsächlichen Verhalten, was als kognitive Dissonanz bezeichnet wird (Gradidge, Zawisza, Harvey, & McDermott, 2021).
Die Theorie der kognitiven Dissonanz, die von Leon Festinger formuliert wurde, postuliert, dass es einen Widerspruch zwischen den Überzeugungen und Handlungen einer Person gibt (Freya & Gaska, 2020, S. 941). Zum Beispiel kann es bei Menschen, die gegen Tierleid sind, zu kognitiver Dissonanz kommen, wenn sie Fleisch essen. Dies kann erklären, warum Fleischessende in einigen Fällen gereizt auf die Lebensweise anderer reagieren, die tierische Produkte meiden.
In Interviews sagen Menschen, die sich pflanzlich ernähren, oft, dass ihre Ernährung Fleischessende zu stören scheint. Diese nehmen ihre kulinarischen Entscheidungen persönlich und fühlen sich reumütig oder bedroht. Es ist, als ob die persönliche vegane Ernährungswahl als öffentliche Verurteilung des Verhaltens anderer angesehen würde (Minson & Monin, 2012, S. 200).
Einige Fleischessende empfinden ihren Konsum als weniger moralisch problematisch als andere. Zwei politische Ideologien, die dieser individuellen Differenz zugrunde liegen, sind Autoritarismus, der Glaube, dass es akzeptabel ist, Kontrolle auszuüben und gegen Untergebene vorzugehen, und soziale Dominanzorientierung, die die Befürwortung sozialer Hierarchie und Ungleichheit umfasst. Forschungen haben ergeben, dass Omnivore in beiden Faktoren höher liegen als Veganer*innen und dass Fleischessende, die Ungleichheit und Hierarchie schätzen, mehr Fleisch konsumieren als diejenigen, die dies nicht tun (Loughnan, Bastian, & Haslam, 2014, S. 2).
Wenn Menschen Tiere jedoch als moralisch bedeutsam erachten, wird auch das Essen von Tieren moralisch problematisch.
Je mehr Bedeutung Individuen einer Sache beimessen, desto unethischer erscheint es, diese zu schädigen. Die Einstellung gegenüber Tieren variiert jedoch stark von Person zu Person (Bastian, Loughnan, Haslam, & Radke, 2012, S. 248). Bastian et al. (2012) postulieren, dass es für Menschen besonders nützlich ist, die Tiere als nicht denkende Wesen zu betrachten, wenn sie den Konflikt zwischen dem Verzehr von Fleisch und ihrem moralischen Mitgefühl für Tiere reduzieren wollen. Die Wahrnehmung einer Tierseele durch Menschen ist überraschend flexibel. Tieren wird oft eine Seele zugeschrieben, um ihr Verhalten besser zu verstehen oder wenn Menschen Gesellschaft suchen. Bastian et al. (2012) formulieren, dass vielen Menschen jedoch die Seele von Nutztieren leugnen, um ihre Fleischkonsumpraktiken zu schützen. Die Leugnung einer Tierseele verringert das Wohlbefinden der Tiere, rechtfertigt jedoch gleichzeitig den ihnen im Fleischproduktionsprozess zugefügten Schaden.
Gemäß dem Handlungsmodell der kognitiven Dissonanz sind Menschen motiviert, kognitive Konflikte zu reduzieren, die effektives Verhalten beeinträchtigen. Die Infragestellung der Tierseele macht den ihnen zugefügten Schaden weniger belastend und erleichtert den Fleischkonsum. Die Wahrnehmung von Tieren als relativ geistlos kann zu der Überzeugung beitragen, dass sie dem Menschen nicht ähnlich sind. Ein Tier als unähnlich zu betrachten, sollte folglich unsere emotionalen Reaktionen auf das Leiden der Tiere dämpfen (Loughnan, Bastian, & Haslam, 2014, S. 3).
Mit Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz wurde nun, wie oben erwähnt, das Meat-Paradoxon konzipiert, ein Phänomen, das den psychologischen Widerspruch beschreibt, der entsteht, wenn Menschen einerseits Fleisch mögen, andererseits aber Tierleid ablehnen. Dies führt zu einem inneren Konflikt. Die meisten Menschen kümmern sich um Tiere und möchten nicht, dass ihnen Schaden zugefügt wird, konsumieren jedoch eine Ernährung, die erfordert, dass sie getötet werden und in der Regel leiden (Loughnan, Bastian, & Haslam, 2014). Daher ist es nicht überraschend, dass es für Fleischesser stressig sein kann, wenn jemand in ihrer Nähe ein veganes Gericht bestellt – es löst eine innere Unruhe aus, die vermieden werden soll. Es ist ähnlich wie bei Menschen, die regelmäßig Tabak oder Alkohol konsumieren und sich bewusst sind, dass ihr Verhalten gesundheitsschädlich ist. Wer feststellt, dass er*sie häufig günstiges Fleisch konsumiert und gleichzeitig weiß, dass Tiere unter den Bedingungen der Massentierhaltung leiden, steht vor einem inneren Konflikt. Eine mögliche Lösung wäre, den Fleischkonsum einzustellen.
Viele Menschen suchen jedoch nach alternativen Strategien, um ihre Komfortzone nicht zu verlassen. Sie argumentieren beispielsweise, dass sich die Bedingungen in der Tierhaltung verbessert hätten, ignorieren schockierende Dokumentationen über Tierquälerei oder Massentierhaltung, relativieren die Informationen, indem sie den Grad des Leidens der Tiere in Frage stellen oder begegnen Veganer*innen mit dem angesprochenen Zorn.
Solche Rechtfertigungsstrategien sind in vielen gesellschaftlichen Diskussionen zu beobachten und dienen dazu, den inneren Konflikt zu reduzieren und die unangenehme Anspannung zu verringern (Zeller, 2020).
Quellen:
- Bastian, B., Loughnan, S., Haslam, N., & Radke, H. R. (2012). Don’t Mind Meat? The Denial of Mind to Animals Used for Human Consumption. Personality and Social Psychology Bulletin 38(2), 247 – 256.
- Freya, & Gaska. (2020). Kognitive Dissonanz. In M. A. Wirtz, Dorsch – Lexikon der Psychologie (S. 941). Bern: Hogrefe Verlag.
- Gradidge, S., Zawisza, M., Harvey, A. J., & McDermott, D. T. (2021). A Structured Literature Review of the Meat Paradox. Social Psychological Bulletin.
- Loughnan, S., Bastian, B., & Haslam, N. (2014). The Psychology of Eating Animals. Current Directions in Psychological Science, 1 – 5.
- Minson, J. A., & Monin, B. (2012). Do-Gooder Derogation: Disparaging Morally Motivated Minorities to Defuse Anticipated Reproach. Social Psychological and Personality Science 3 (2), 200 – 207.
- Zeller, N. (09. 08 2020). Anders essen – besser essen? Warum sich so viele Fleischesser von Veganern bedroht fühlen. Abgerufen am 26. 04 2024 von https://www.rnd.de/lifestyle/fleisch-versus-vegan-warum-sich-so-viele-fleischesser-von-veganern-bedroht-fuhlen-2D76TGMXQJHEFN3OPI5AMBIK7U.html
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Fotograf*in vporro
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