Seit Jahrhunderten diskutieren Philosophen und Vertreter anderer Disziplinen über die Existenz des Bösen im Menschen. Doch kann einem Menschen das „Böse“ inhärent sein? Im Bereich der Forensik taucht der Begriff womöglich am häufigsten auf, obgleich es sich bei der Frage nach dem Bösen eher um ein Anliegen der Philosophie handeln dürfte.[1]
Unstrittig kommen uns bei dem Ausdruck „böse“ Namen wie Fidel Castro, Adolf Hitler, Ted Bundy oder Bonnie und Clyde in den Sinn. Was sie gemeinsam haben ist unschwer erkennbar: ihre perfiden Taten. Sie scheinen das Böse in ihnen ausmachen und doch sind wir in der Lage, mit fiktionalen Charakteren zu sympathisieren, sie zu bewundern, Mitleid mit ihnen zu haben, obgleich sie dasselbe tun.
Von klein auf wird uns beigebracht zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Schon das klassische Kindermärchen hat in der Regel einen Bösewicht, der am Ende bezwungen wird. Dabei ist es gar nicht so einfach zwischen Gut und Böse eine klare Linie zu ziehen. In der Philosophie sind Theorien des Guten und Bösen so zahlreich wie kontrovers. Gut ist schließlich alles, was für den Menschen gut erscheint – und das ist nun mal sehr weit gefasst und individuell unterschiedlich definiert. Das Böse hingegen wird als etwas Schädliches, nicht Erstrebenswertes aufgefasst. Auch hier ist ein großer Interpretationsspielraum gegeben. Zumal jeder Mensch mit Sicherheit mindestens einmal in seinem Leben fälschlicherweise etwas vermeintlich Böses tut, nicht aber aus Boshaftigkeit oder bösem Willen, sondern weil die äußeren Umstände es hervorbringen. Insofern wird in der Ethik auch eine Unterscheidung in „Schlecht“ und „Böse“ vorgenommen, um das Böse des Bösen willen von fälschlichen, verwerflichen (schlechten) Handlungen oder Entscheidungen abzugrenzen.[2] Ist es also vielleicht genau dieser schmale Grad zwischen böse und schlecht, der uns unsere grundlegenden Überzeugungen plötzlich verwerfen lässt? Und wenn ja, wieso fällt es uns im fiktionalen Geschehen leichter als im realen Leben, uns auf diesem schmalen Grad zu bewegen?
Fiktionale Charaktere mit Sympathiepotenzial
Haus des Geldes, Hannibal und You – Du wirst mich lieben sind nur einige Serien-Beispiele, die genau diese irrationale Sympathie für den vermeintlichen Antagonisten ins Zentrum rücken. Opfer (Geiseln) in der Serie Haus des Geldes kooperieren mit dem sog. Professor und seinem Team, das einen Bankraub begeht. Eine der Geiseln verliebt sich sogar in ihren Geiselnehmer, zeugt ein Kind mit ihm und wird zum Mittäter. Etwas, das aus Sicht der Psychologie ein klarer Fall eines Stockholm-Syndroms wäre. Erlebensqualitäten, wie positive Gefühle gegenüber dem Geiselnehmer (und umgekehrt) sowie negative Gefühle gegenüber den Einsatzkräften der Polizei und anderen Befreiern, bilden das Kernstück des Phänomens.[3] Selbst die Serie spielt mit diesem psychologischen Aspekt der Geiselnahme und verleiht der Dame den Decknahmen „Stockholm“.[4] Der Zuschauer fiebert bei jedem Kugelaustausch mit, hofft auf die Unversehrtheit der Teammitglieder und fürchtet, der Professor könnte jeden Moment geschnappt werden. Trotz der Tatsache, dass es sich streng genommen um einen Bankraub mit Geiselnahme handelt, möchten wir den cleveren, fürsorglichen, nahezu schüchternen Professor reüssieren sehen.
In Hannibal sehen wir den Serienmörder und Kannibalen Dr. Hannibal Lecter als einen angesehenen und gebildeten Psychiater. Seine freundschaftlichen Gefühle zu dem FBI-Ermittler Will Graham lassen ihn menschlich wirken. Immer wieder blitzen emotionale Seiten durch und lassen den Fakt, dass Dr. Lecter Menschen ermordet, chirurgisch präzise zerlegt, zu kulinarischen Highlights verwandelt und zum Teil gemeinschaftlich mit unwissenden Freunden verspeist, nebensächlich erscheinen.[5] In manch einer Situation wird sich der Zuschauer sicherlich dabei ertappen, wie er denkt: „Ach, der hat es sowieso nicht anders verdient“. In der Realität würden wir von solchen Gedanken Abstand nehmen, sie erst gar nicht zulassen, erschüttert sein von den Grausamkeiten, derer wir gerade Zeuge geworden sind. Zu keinem Zeitpunkt würden wir nach seinen Motiven fragen oder gar sein Handeln zu rechtfertigen versuchen.
In You – Du wirst mich lieben stehen wir konstant vor der Herausforderung, das Gute gegen das Böse im Hauptcharakter Joe Goldberg abzuwägen. Schamlos stalkt er Frauen, in die er sich verliebt, ist gewalttätig und mordet – aus Liebe für sie, so jedenfalls seine Meinung. Gleichzeitig ist er der fürsorgliche Nachbar, der die Nachbarskinder beschützt, damit ihnen nicht dieselben traumatischen Erfahrungen wiederfahren, wie ihm selbst in seiner Kindheit.[6] Wie kommt es also, dass wir bei der filmografischen (fiktionalen) Inszenierung des „Bösen“ all unsere moralischen Vorstellungen über Bord werfen?
Evidenzlage
Dieser Frage sind Krause und Rucker (2020) nachgegangen. In ihrer Studie „Can Bad Be Good? The Attraction of a Darker Self“ kommen sie zu dem Ergebnis, dass es für unsere Sympathien für bösartige Charaktere eine plausible Erklärung gibt: Die Unversehrtheit unseres Selbstbildes. Den Autoren zufolge identifizieren wir uns am stärksten mit denjenigen Charakteren und ihren negativen Eigenschaften, die uns am meisten ähneln. Anders ausgedrückt: Es ist die „dunkle Version“ von uns selbst, zu der wir uns offenkundig hingezogen fühlen. Die Fiktionalität der Charaktere lässt Vergleiche, Gefühle von Mitleid oder Sympathie zu, ohne dabei unser fragiles Selbstbild zu gefährden.[7] Bereits Freud und de Sade begreifen das Böse und Destruktive als fundamentalen Teil der menschlichen Natur, den es zu akzeptieren gilt und verletzen damit unser schuldlos geglaubtes Ich-Ideal. Für sie ist die Nichtakzeptanz dieser Gegebenheit eine bloße Illusion – eine klare Grenze zwischen Gut und Böse existiert nicht.[8]
Fazit
Wenn man also Abstand nimmt von der bloßen Behauptung, der Mensch sei böse aus reiner Boshaftigkeit oder Willkür und man das Böse als Eigenheit einer Tat begreift, das mit dem Tatgeschehen endet, so wird ersichtlich, dass es keinen „bösen Charakter“ braucht, um böse Taten zu begehen. Während wir im realen Leben jedoch den Blick auf die Tat richten und im Normalfall keinerlei Versuche unternehmen diese zu legitimieren, sondern entsetzt von dem Akt der Willkür und der emotionalen Unberührtheit sind,[9] ermöglichen uns fiktionale Charaktere einen Zugang zu Gedanken und Gefühlen, die wir sorgfältig zu unterdrücken gelernt haben. Die Trennung von Realität und Fiktion schafft einen geschützten Raum, der unangenehme Gefühle mildert und die Aufrechterhaltung des Selbstbildes garantiert.[10]
[1] Vgl. Kröber (2010), S. 79
[2] Vgl. Mehner/Frey (2019), S. 440-441
[3] Vgl. Völker/Dahms (2016), S. 193
[4] Vgl. Netflix (2020)
[5] Vgl. Joyn (2020)
[6] Vgl. Netflix (2020)
[7] Vgl. Krause/Rucker (2020), S. 518-530
[8] Vgl. Klotter (2018), S. 24
[9] Vgl. Kröber (2010), S. 79-80
[10] Vgl. Audio-Interview mit Rebecca Krause (2020), Association of Psychological Science
Quellenverzeichnis
Fuller, B./ Rymer, M./ Alexander, J./ De Laurentiis, M./ Dumas, S./ Todd Ellis, E. et al. (Executive Producers). (2013-2015). Hannibal [TV-Serie]. Sony Pictures Television, NBC/Joyn. https://www.joyn.de/serien/hannibal
Klotter, C. (2018). Warum der Spaß am Bösen ein Teil von uns ist. Wiesbaden: Springer.
Kröber, H.-L. (2010). Das Böse. Forensische Psychiatrie, Psychologie Kriminologie, Vol. 4, 79-80.
Krause, R. J. (2020). Rebecca Krause discussing her research on fivtional villains who remind us of ourselves [Interview]. Association of Psychological Science. Abgerufen am 16.08.2020 von https://www.psychologicalscience.org/news/releases/fictional-villains-allure.html
Krause, R. J./ Rucker, D. D. (2020). Can Bad Be Good? The Attraction of a Darker Self. Psychological Science, Vol. 31(5), 518-530.
Lindenberg, R./ Lang, A./ Sokoloff, J. (Executive Producers). (2018-present). You – Du wirst mich lieben (TV-Serie). Warner Bros. Television Distribution, Netflix. https://www.netflix.com/you
Manubens, N./ Martínez Lobato, E./ Colmenar, J./ Martínez, S./ Pina, Á. (Executive Producers). (2017-present). Haus des Geldes (TV-Serie). Vancouver Media, Netflix. https://www.netflix.com/title/80192098
Mehner, C./ Frey, D. (2019). Ein Blick auf das Gute und das Böse aus Sicht der Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen. In Frey, D. (Hrsg.), Psychologie des Guten und Bösen (S. 439-456). Berlin: Springer.
Völker, B./ Dahms, P. (2016). Psychologische Aspekte bei Geiselnahmen. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, Vol. 23, 189-199.
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