Waldorfschulen erfreuen sich wachsender Beliebtheit: im Jahr 2018 wurden deutschlandweit 7.041 Erstklässlerinnen und Erstklässler in eine Waldorfschule eingeschult – so viele wie nie zuvor (destatis, 2019). Insgesamt wurden in Deutschland im Oktober 2022 rund 90.000 Schülerinnen und Schüler an 253 Waldorfschulen unterrichtet (Bund der Freien Waldorfschulen e.V., 2023b). Befürworter der Waldorfpädagogik heben hervor, dass Kinder dort ihre künstlerischen und gestalterischen Fähigkeiten ausleben und sich frei entwickeln können. Immer wieder wird jedoch auch Kritik an der Waldorfpädagogik sowie der ihr zugrunde gelegten anthroposophischen Weltanschauung laut (Ullrich, 2015). Grund genug, sich im ersten Teil der dreiteiligen Reihe zur Waldorfpädagogik mit ihrer Historie und der eng mit ihr verbundenen Anthroposophie auseinanderzusetzen.
Historie der Waldorfschulen
Die erste Freie Waldorfschule wurde im September 1919 in Stuttgart auf Bestreben des damaligen Direktors der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, Emil Molt, gegründet (WDR, 2019). Dieses Vorhaben war insofern besonders, als dass an dieser Schule 191 Kinder von Mitarbeitern der Zigarettenfabrik sowie 65 weitere Kinder im Sinne einer Gesamtschule gemeinsam beschult wurden (Ullrich, 2015, S. 94). Befürworter der Waldorfidee konstatieren, dass damit „zum ersten Mal das Prinzip sozialer Gerechtigkeit im Bildungswesen verwirklicht“ (Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e. V., o. D.) wurde. Für die Entwicklung eines pädagogischen Konzeptes für diese Schule beauftragte Molt den Begründer der sogenannten Anthroposophie – Rudolf Steiner (WDR, 2019).
Mittlerweile existieren Waldorfschulen auf allen Kontinenten: alleine in Europa sind es 812 Waldorfschulen, weltweit 1.187 (Stand Oktober 2022) – mit steigender Tendenz (Bund der Freien Waldorfschulen e.V., 2023b). Einen vergleichbaren Erfolg kann nur die Montessori-Pädagogik vorweisen. So schreibt Ullrich (2015, S. 7) treffend: „Die anthroposophische Schulbewegung kann mittlerweile neben der Montessori-Pädagogik als die erfolgreichste Reforminitiative gelten, die aus der klassischen Epoche der Neuen Erziehung (…) hervorgegangen ist“.
Anthroposophie
Beschäftigt man sich mit der Waldorfpädagogik, begegnet man eher früher als später dem Begriff Anthroposophie. Das Wort Anthroposophie hat seinen Ursprung im Griechischen und bedeutet übersetzt Weisheit des Menschen (anthro für Mensch, sophía für Weisheit) (Bund der Freien Waldorfschulen e.V., 2023a). Dabei handelt es sich um eine komplexe und umfassende Weltanschauung, die von Rudolf Steiner entwickelt wurde und viele spirituelle Elemente in sich vereint. Das ihr zugrunde liegende Menschenbild ist durch die Überzeugung gekennzeichnet, dass der Mensch ein geistiges Wesen sei, „(…) das sich auf seinem Bildungsweg von den materiellen Bindungen an die Erde wieder befreien und zu einer geistigen Existenz gelangen muss.“ (Kuhlmann, 2013, S. 115). In diesem Verständnis finden sich einige zentrale Aspekte der Anthroposophie wieder: erstens die Überzeugung, „dass hinter der sichtbaren Welt der Dinge eine den Sinnen zunächst nicht zugängliche geistige Welt“ (Ullrich, 2015, S. 95) existieren würde. Zweitens, „dass es jedem Menschen durch die Schulung bestimmter ihm gegebener geistiger Fähigkeiten möglich ist, diese verborgene höhere Welt zu erkennen“ (Ullrich, 2015,
S. 95) sowie drittens der Reinkarnationsgedanke. Mit letzterem beschreibt die Anthroposophie, dass sich der Mensch nach seinem Tod zwar von seinem weltlichen und materiellen Wesen trennt, sein Geist jedoch fortbesteht und eine Wiedergeburt, die Reinkarnation, erfährt (Kuhlmann, 2013, S. 115-116).
Die Ausführungen Rudolf Steiners zur Anthroposophie sind sehr umfassend und beschäftigen sich neben der Erziehung auch mit Politik, Kunst, Medizin und Landwirtschaft (Ullrich, 2015,
S. 94). Die Gesamtausgabe seiner Werke umfasst rund 350 Bände (Ullrich, 2015, S. 13), weshalb es aufgrund des Umfangs und der Komplexität seiner Ausführung in diesem Blogbeitrag ausschließlich um ausgewählte Aspekte der anthroposophischen Pädagogik gehen soll. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die Waldorfpädagogik der sogenannten Reformpädagogik zugeordnet wird. Unter diesem Begriff wird eine Vielzahl von pädagogischen Konzepten zusammengefasst, die zwischen 1890 und 1933 entwickelt wurden und eine zum damaligen Zeitpunkt neue Sicht auf Kinder, ihre Entwicklung und ihre Erziehung vermittelten (Kuhlmann, 2013, S. 91). Für die Waldorfpädagogik bedeutet dies beispielsweise, dass Erziehung von Kindern darauf ausgerichtet sein soll, die Entwicklung der geistigen Existenz zu fördern (Kuhlmann, 2013, S. 116).
Entwicklung in Jahrsiebten
Zentral ist hierfür das Verständnis der Entwicklungsphasen, die Menschen nach Steiner auf ihrem Weg zu einer geistigen Existenz durchlaufen. Diese Phasen, von denen nachfolgend lediglich die ersten drei in Kürze dargestellt werden, dauern jeweils sieben Jahre, weshalb sie auch als Jahrsiebte bezeichnet werden (Ullrich, 2015, S. 120). In engem Zusammenhang zu den Jahrsiebten stehen die vier Wesensglieder: der physische Leib, der Ätherleib, der Astralleib und der Ich-Leib sowie die insgesamt drei Geburten, die der Mensch im Verlauf seines Lebens durchlebt (Ullrich, 2015, S. 105).
Das erste Jahrsiebt beginnt mit der Geburt und wird nach Steiner geprägt durch die Entwicklung der Sinne (Ullrich, 2015, S. 120). Über die sich entwickelnden Sinnesorgane nimmt ein Kind in dieser Zeit seine Umwelt wahr. Lernen erfolgt in dieser Zeit über das Nachahmen von Vorbildern (Ullrich, 2015, S. 120). Daraus ergibt sich die zentrale Aufgabe der Erziehung, eine „dinglich und sozial nachahmenswert gestaltet[e] Welt“ (Ullrich, 2015, S. 120) zu schaffen, die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes begreifen können. In dieser Phase haben Kinder nur den physischen Leib, welcher „das unterste Wesensglied des Menschen“ (Ullrich, 2015, S. 105) darstellt. Dieser physische Leib ist mit den Sinnen begreifbar und kann beispielsweise durch Messen oder Wiegen erfasst werden. Jedem Leib ordnet Steiner zudem eines der vier Elemente zu. Dem physischen Leib wird beispielsweise das Element Erde zugeordnet, denn der physische Leib repräsentiere die Verankerung des Menschen auf der Erde (Ullrich, 2015, S. 105).
Im zweiten Jahrsiebt werden die ‚inneren Sinne‘ des Kindes herausgebildet, also beispielsweise die Erinnerung, das Gedächtnis und die Emotionen (Ullrich, 2015, S. 120). Nun sei es Aufgabe der Erziehung, dem Kind die Möglichkeiten einzuräumen, sich selbst und sein Inneres auszudrücken, beispielsweise durch Kunst, Sport, Musik oder Ähnliches (Clignett, 2021). Erziehende werden zu sogenannten „Erziehungskünstler[n], die durch einen bildhaft gestalteten, sprachästhetisch anspruchsvollen Unterricht das fühlende Miterleben und Verstehen ansprechen und kultivieren.“ (Ullrich, 2015, S. 122). In dieses Jahrsiebt fällt die Geburt des sogenannten Ätherleibes, der beispielsweise den Charakter sowie die Gewohnheiten eines Menschen beinhaltet. Diesem Leib wird das Element Wasser zugeordnet, da er einer konstanten Veränderung ausgesetzt ist und sich konstant ‚im Fluss‘ befindet (Ullrich, 2015, S. 106).
Das dritte und letzte Jahrsiebt der kindlichen Entwicklung fokussiert die Entwicklung des abstrakten Denkens und Urteilens. Zentrale Aufgabe der Kinder in dieser Phase sei die Selbstfindung (Ullrich, 2015, S. 123). Aufgabe der Erziehungspersonen sei es nun einerseits, einen wissenschaftlichen Zugang zur Welt zur vermitteln, welcher der Entwicklung des abstrakten Denkens und Urteilens Rechnung trägt, und dabei gleichzeitig die Begeisterung bei Kindern für ihre Umwelt zu erwecken (Ullrich, 2015, S. 123). In diesem Jahrsiebt entsteht der sogenannte Astralleib. Da er die „Leichtigkeit, Unfassbarkeit und Elastizität“ (Ullrich, 2015, S. 106) repräsentiere, ist sein Äquivalent das Element Luft (Ullrich, 2015, S. 106).
Fazit und Ausblick
In diesem Beitrag wurde die Historie der Freien Waldorfschulen dargestellt sowie der Begriff der Anthroposophie und das mit ihm verbundene Konzept der kindlichen Entwicklung in Jahrsiebten angerissen. Es wurde deutlich, dass die Anthroposophie nach Rudolf Steiner als Weltanschauung verstanden werden kann, die einen großen spirituellen Anteil besitzt. Auch das Verständnis des kindlichen Entwicklungsprozesses in Jahrsiebten zeigt einen starken Einfluss spiritueller Elemente.
Dieses anthroposophische Verständnis der kindlichen Entwicklung prägt den Unterricht an Waldorfschulen auf nahezu allen Ebenen. Wie diese Einflüsse der Anthroposophie den Unterricht an Waldorfschulen im Detail prägen, wird im zweiten Teil dieser Reihe genauer beleuchtet. Zudem wird in einem dritten Beitrag dargestellt, welche Chancen der Besuch einer Waldorfschule haben kann und welche Aspekte Kritiker bemängeln.
Titelbild
Lemcke, S. (2017). [Aquarellzeichnung]. Abgerufen am 24.05.2023. Verfügbar unter https://pixabay.com/photos/painting-watercolor-paint-paper-2407262/.
Literatur
Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (2023a). Anthroposophie. Abgerufen am 19.04.2023. Verfügbar unter https://www.waldorfschule.de/paedagogik/anthroposophie.
Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (2023b). Waldorfschulen weltweit. Abgerufen am 12.04.2023. Verfügbar unter https://www.waldorfschule.de/schulen/schulsuche/schulverzeichnisse.
Clignett, E. (2021). Die Jahrsiebte. Abgerufen am 19.04.2023. Verfügbar unter https://waldorfinspiration.com/de/die-jahrsiebte.
destatis (2019). Freie Waldorfschulen: 2018 so viele Kinder wie nie zuvor eingeschult. Abgerufen am 12.04.2023. Verfügbar unter https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/09/PD19_364_211.html.
Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners (o. D.). Was ist Waldorfpädagogik? Abgerufen am 19.04.2023. Verfügbar unter https://www.freunde-waldorf.de/waldorf-weltweit/waldorfpaedagogik/was-ist-waldorfpaedagogik/.
Kuhlmann, C. (2013). Erziehung und Bildung. Einführung in die Geschichte und Aktualität pädagogischer Theorien. Wiesbaden: Springer VS.
Ullrich, H. (2015). Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung. Weinheim: Beltz.
WDR (2019). 7. September 1919 – Erste Waldorfschule wird eröffnet. Abgerufen am 19.04.2023. Verfügbar unter https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-waldorfschule-100.html.