Im ersten Beitrag dieser Reihe wurden die Geschichte der Freien Waldorfschulen sowie zentrale Begrifflichkeiten und Konzepte der anthroposophischen Pädagogik beschrieben. In diesem zweiten Teil soll nun der Frage nachgegangen werden, welche Implikationen die Anthroposophie für den Unterricht an Waldorfschulen hat und durch welche Merkmale der Unterricht an Waldorfschulen charakterisiert wird.
Merkmale der Waldorfschulkultur
Zunächst muss gesagt werden, dass jede Waldorfschule eine große konzeptionelle, organisatorische und personelle Freiheit genießt, was letztlich zu einem sehr heterogenen Bild der Waldorfschulen führt (Ullrich, 2015, S. 15). So obliegt beispielsweise die Leitung der Schule gemeinsam den Lehrerinnen und Lehrern sowie den Eltern der Schülerinnen und Schüler (Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V., o. D.). Dennoch finden sich die folgenden Aspekte an sämtlichen Waldorfschulen wieder und sind somit charakteristisch für die „Waldorfschulkultur“ (Ullrich, 2015, S. 17).
- Noten & Zeugnisse: Ein zentrales Element der Waldorfschulpädagogik ist der Verzicht auf eine Benotung der Leistungen von Schülerinnen und Schülern in der Unter- und Mittelstufe. Anstelle von klassischen Noten erhalten sie regelmäßig möglichst umfassende Charakterisierungen und Beschreibungen ihres Fortschritts in sogenannten Lern- und Entwicklungsberichten (Ullrich, 2015, S. 40). Dies wird unter anderem damit begründet, dass eine klassische Note nichts über den Wissens- und Entwicklungsstand eines Kindes sowie sein Wesen aussagen würde (Freie Waldorfschule Wolfsburg e.V., 2023).
- Ausrichtung der Unterrichtsgestaltung an aktueller Entwicklungsphase: Bei der Gestaltung des Unterrichts und der Art und Weise, wie Inhalte vermittelt werden, orientieren sich Waldorfschulen am jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder. Dies spiegelt sich beispielsweise darin wider, dass das Thema ‚Hausbau‘ in der dritten Klasse verpflichtend behandelt wird. Ursula Schmusch, Lehrerin an der Freien Waldorfschule in Rottweil, erklärt dies in einer Dokumentation von Pfeifer (2023) damit, dass Kinder in diesem Alter die ganzheitliche und harmonische Wahrnehmung der Welt verlieren, und beispielsweise den kindlichen Glauben an Weihnachtsmann oder Christkind ablegen würden. Indem der Hausbau einen festen Platz im Unterricht einnimmt, sollen die Kinder neu „beheimatet“ (Pfeifer, 2023, 16:19-16:22) werden und bestehende Widersprüche aufgelöst werden. Die enge Anbindung an die kindliche Entwicklung nach Steiner zeigt sich auch im hohen Stellenwert des künstlerischen und gestalterischen Unterrichts, beispielsweise in Kunst, Musik oder Eurythmie. Dies solle den Kindern dabei helfen, „einen reichen Erfahrungsschatz im differenzierten Wahrnehmen und schöpferischen Gestalten“ (Bund der Freien Waldorfschulen e.V., 2023b) zu erwerben. Im dritten Jahrsiebt, in dem Wissenschaftlichkeit ein wichtiges Motiv der Entwicklung ist, wird der Unterricht zunehmend wissenschaftlich gestaltet. Wissenschaftlichkeit bedeutet im Verständnis der Waldorfpädagogik, dass Kinder selbstständig durch eine genaue Beobachtung Kausalitäten erkennen (Ullrich, 2015, S. 18). Das Ziel dieser Wissenschaftsfokussierung ist demnach nicht die Vorbereitung auf eine mögliche universitäre Ausbildung, sondern dass die Unterrichtsinhalte „sich mit den Lebensfragen des jungen Menschen verbinden (…) und Antworten [geben].“ (Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V., o. D.).
- Epochenunterricht: Eine weitere Besonderheit der Waldorfschulen ist der Epochenunterricht, der täglich in den ersten beiden Schulstunden abgehalten wird. Inhaltlich wird in diesem Unterricht ein Fach beziehungsweise Thema, wie beispielsweise Rechnen, Schreiben, oder später auch der Hausbau oder Heimat- und Tierkunde, über mehrere Wochen hinweg behandelt. Dabei werden keine Lehrbücher genutzt, stattdessen gestalten die Kinder selbst sogenannte Epochenhefte, in denen sie das Gelernte zusammenfassen (Bund der Freien Waldorfschulen e.V., 2023b).
- Außerschulisches Lernen: In Waldorfschulen wird dem Lernen außerhalb des Klassenraumes große Bedeutung beigemessen. So wird beispielsweise das Thema Feldbau behandelt, indem Schülerinnen und Schüler die Pflege der Schulgärten übernehmen. Zudem machen Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe mehrere Praktika: in der 9. Klasse ein Landwirtschaftspraktikum auf einem Bauernhof, in der 10. Klasse ein Feldmesspraktikum und in der 11. Klasse ein Sozialpraktikum (Ullrich, 2015,
S. 20). - Ausbildung & Rolle der Lehrerinnen und Lehrer: Das Recht zur Errichtung einer privaten Schule, wie es die Freien Waldorfschulen sind, ist in Deutschland im Grundgesetz geregelt. Die Voraussetzung für die Genehmigung ist, dass die privaten Schulen „in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen (…)“ (§ 7 Absatz 4 Satz 3 GG). Dies bedeutet, dass die Gleichwertigkeit der Lehramtsausbildung im Vergleich zur Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern an öffentlichen Schulen gegeben sein muss. In der Regel bedeutet das, dass Fachlehrkräfte an Waldorfschulen denselben universitären Abschluss haben wie Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen Schulen. Allerdings wird explizit auch die Möglichkeit eingeräumt, ohne universitäres Lehramtsstudium, Lehrerin oder Lehrer an einer Waldorfschule zu werden: so können beispielsweise Abschlüsse in fachnahen Studiengängen oder eine ausreichende Berufserfahrung nach einer behördlichen Prüfung als gleichwertig anerkannt werden. Einen Sonderstatus nehmen diejenigen Fächer ein, die an öffentlichen Schulen nicht unterrichtet werden, wie Werken, Eurythmie oder Gartenbau. Für diese kann eine Gleichwertigkeitsprüfung nicht stattfinden, da es durch das Fehlen dieser Fächer an öffentlichen Schulen keine Vergleichswerte gibt. Daher können diese Fächer auch von Menschen ohne universitären Abschluss unterrichtet werden (Bund der Freien Waldorfschulen e.V., 2023c).
Ungeachtet der bisherigen Ausbildung müssen alle Lehrerinnen und Lehrer an Waldorfschulen eine mehrjährige „waldorfpädagogische Zusatzausbildung“ (Bund der Freien Waldorfschulen e.V., 2023c) durchlaufen, die entweder an den Schulen oder an waldorfeigenen Ausbildungsinstituten absolviert wird (Bund der Freien Waldorfschulen e.V., 2023c). Einen inhaltlichen Schwerpunkt dieser Ausbildung bildet die Vermittlung der anthroposophischen Lehren Rudolf Steiners, wobei die genaue Ausgestaltung der Ausbildungsinhalte den einzelnen Instituten obliegt (Bund der Freien Waldorfschulen e.V., 2023a; Ullrich, 2015, S. 20).
Eine weitere Besonderheit der Waldorfschulen ist, dass die Kinder in den ersten acht Schuljahren in allen Hauptfächern ausschließlich von ihrer Klassenlehrerin oder ihrem Klassenlehrer unterrichtet werden. Eine Ausnahme bilden die Fremdsprachen, der Religionsunterricht sowie der musisch-praktische Unterricht, die durch andere Lehrpersonen unterrichtet werden. Dies hat zum Ziel, dass die Kinder eine enge Beziehung zu ihrer Klassenlehrerin oder ihrem Klassenlehrer aufbauen können und dass diese Bindung stark durch Kontinuität geprägt ist (Ullrich, 2015, S. 25). Dennoch ist die Beziehung zwischen Klassenlehrerin oder Klassenlehrer und Kindern nicht als gleichberechtigte Beziehung auf Augenhöhe konzipiert – im Gegenteil ist sie sogar eher hierarchisch aufgebaut. Ullrich (2015, S. 25) sieht die Aufgabe der Klassenlehrerin oder des Klassenlehrers in der Waldorfpädagogik darin, ein „richtunggebendes Vorbild und haltgebende Autorität“ zu sein. Dies ist auch im Kontext der Entwicklung der Kinder in Jahrsiebten zu sehen: demnach sind Kinder erst ab dem dritten Jahrsiebt, das heißt ab dem Alter von 14 Jahren in der Lage, „Selbstständigkeit im Denken und Urteilen“ (Ullrich, 2015, S. 25) zu entwickeln. Zuvor ist dies die Aufgabe und Verantwortung der Lehrerinnen und Lehrer. Allgemein kann festgehalten werden, dass der Unterricht sehr lehrerzentriert ist: zunächst hält der Lehrer oder die Lehrerin einen Vortrag, der anschließend von den Kindern unter weiterer Anleitung in schriftlicher, musikalischer oder künstlerischer Form verarbeitet wird (Sadigh, 2012).
Fazit und Ausblick
Abschließend kann festgehalten werden, dass die anthroposophischen Lehren Rudolf Steiners den Unterricht und das Selbstverständnis von Waldorfschulen stark prägen. Zwar wird die Anthroposophie nicht als eigenständiges Unterrichtsfach gelehrt, dennoch ist sie die Grundlage für das Verständnis von Lernen und Lehren an den Waldorfschulen. Wenngleich die in diesem Beitrag vorgestellten Merkmale eine Gemeinsamkeit aller Freien Waldorfschulen darstellen, muss festgehalten werden, dass durchaus Unterschiede in der Nähe zur Anthroposophie zwischen den Freien Waldorfschulen bestehen. Auf Basis der bisherigen Ausführungen stellt sich nun die Frage, wie Waldorfschulen und die ihr zugrundgelegte anthroposophische Pädagogik zu bewerten sind. Dieser Frage wird im dritten und letzten Teil dieser Reihe nachgegangen.
Titelbild
Podrez, A. (2021). [Fotografie von vier Kindern im Klassenzimmer]. Abgerufen am 18.05.2023. Verfügbar unter https://www.pexels.com/de-de/foto/niedlich-sitzung-schule-glucklich-8087935/.
Literatur
Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (2023a). Unsere Lehrer:innenausbildung. Abgerufen am 20.04.2023. Verfügbar unter https://www.waldorfschule.de/lehrerin-werden/ausbildung-an-seminaren-und-hochschulen.
Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (2023b). Unterstufe. Abgerufen am 20.04.2023. Verfügbar unter https://www.waldorfschule.de/paedagogik/altersspezifischer-lehrplan/unterstufe.
Bund der Freien Waldorfschulen e.V. (2023c). Quereinstieg an Waldorfschulen. Abgerufen am 20.04.2023. Verfügbar unter https://www.waldorfschule.de/lehrerin-werden/quereinstieg.
Freie Waldorfschule Wolfsburg e.V. (2023). Charakter, Bemühen, Entwicklung. Abgerufen am 24.05.2023. Verfügbar unter https://www.waldorf-wob.de/unser-konzept/abschluesse-noten-und-zeugnisse/.
Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners (o. D.). Was ist Waldorfpädagogik? Abgerufen am 19.04.2023. Verfügbar unter https://www.freunde-waldorf.de/waldorf-weltweit/waldorfpaedagogik/was-ist-waldorfpaedagogik/.
Pfeifer, J. (Regie) (2023). Frank Seibert in der Waldorfschule | Recherche-Dreiteiler zur Anthroposophie [Dokumentation]. Bilderfest.
Sadigh, P. (2012). „Die Lehre Steiners ist kein Evangelium mehr“. Abgerufen am 21.04.2023. Verfügbar unter https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2012-09/waldorfschulen-studie.
Ullrich, H. (2015). Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung. Weinheim: Beltz.