Warum fällt es einigen Menschen so leicht, ihre Ziele zu verfolgen, während andere unter uns dabei förmlich ausbrennen? Das könnte daran liegen, dass wir eine ungünstige Idee von Disziplin haben, nämlich eine Art der Selbstunterdrückung, die ich „Bulldozing“ nenne. Ich werde erläutern, was Bulldozing ist, was es für schwerwiegende Folgen hat und was du dagegen tun kannst.
Was verstehen wir unter „Disziplin“?
Viele Menschen erleben etwas, das sie als Selbstsabotage wahrnehmen. Du kennst es sicher von deinen Neujahrsvorsätzen: nach und nach gehst du doch nicht mehr fünfmal pro Woche joggen. Du denkst, du bräuchtest einfach mehr Disziplin. Sie lässt sich als ein Dranbleiben an zielgerichteten Handlungen beschreiben. Ein Mechanismus der Disziplin kann z. B. die Willenskraft sein, sich kurzfristigen Impulsen nicht hinzugeben. Andauernde Willenskraft kann jedoch erschöpfen. Was ist also die Alternative und was sabotiert denn da ständig unsere Ziele?
Was ist Bulldozing?
Bulldozing lässt sich auch als ein Dranbleiben an zielgerichteten Handlungen gegenüber inneren Widerständen beschreiben. Der wichtige Unterschied ist „gegenüber inneren Widerständen“. Beim Bulldozing geht es nämlich im Kern darum, dass deine Bedürfnisse unterdrückt und überrollt werden, wie von einem Bulldozer. Im Alltag hast du sicher oft ein wichtiges Ziel im Hinterkopf. Deine restlichen Bedürfnisse können dadurch jedoch nicht immer genügend Raum zu deren Befriedigung erhalten. Sie werden wegen des „wichtigen“ Ziels unterdrückt. Wenn du jetzt denkst „macht doch jeder“ oder „ist doch normal“, dann muss ich erwidern: kann sein, aber das macht es nicht besser.
Bulldozing kann schwere Folgen haben
Das Unterdrücken von Bedürfnissen kann zu vielen Problemen führen. Falls es milde verläuft, kann es zur Verstärkung der bedürftigen unterdrückten Gefühle führen, bis sie wie Wasser durch kleine Risse durchsickern. Das führt oft zur dem, was wir als Selbstsabotage wahrnehmen, denn das „wichtige“ Ziel wird irgendwann zugunsten des durchgesickerten Bedürfnisses zwanghaft aufgegeben. Das kann als eine Bedürfnis-Umkehr betrachtet werden, denn dein durchgesickertes Bedürfnis betreibt dann zeitweise Bulldozing durch Unterdrückung des „wichtigen“ Ziels. Wenn dir dieses hin-und-her irgendwann auf die Nerven geht, kann es sein, dass du eine noch strengere Form der Unterdrückung heranziehst, nämlich die vollständige Verdrängung oder Abspaltung vom Bedürfnis. In dem Fall können die Folgen auch schwerer sein. Es kann langfristig zu einer inneren emotionalen Taubheit führen, die zum Beispiel typisch für Depressionen ist (Visted, Vøllestad, Nielsen, & Schanche, 2018). Der Körper hat keinen Antrieb, da er sich scheinbar sowieso nicht um seine Bedürfnisse kümmern kann oder will. Mechanismen zur Unterdrückung sind vielfältig, bekannt ist dir sicher die Nutzung von Suchtmitteln. Klingt alles sehr unschön, muss das denn wirklich sein?
Warum Bulldozing notwendig erscheint
Dass du zum Bulldozing greifst, ist eigentlich verständlich: du möchtest ja nicht bei jedem Bedürfnis-Impuls alles sofort unterbrechen müssen, sondern dranbleiben. Manche Ziele sind nun einmal wichtig zu verfolgen. Um Bulldozing wirklich zu verstehen, ist es daher notwendig sich anzusehen, wie wir uns für Bedürfnisse entscheiden – und in welcher Beziehung diese buchstäblich zueinander stehen.
Wie entscheiden wir uns für Bedürfnisse?
Bedürfnisse unterliegen einer natürlichen Fluktuation. Dies wird schnell klar, wenn du zum Beispiel sehr großen Hunger bekommst. Dann erscheint z. B. die Studienarbeit erstmal nicht so wichtig. Die Unterdrückung kann jedoch erstaunlich stark motiviert sein. Sagen wir zum Beispiel, du bist mit dem Gefühl aufgewachsen, die Zuneigung deiner Eltern über gute Leistung verdienen zu müssen. In diesem Fall ist sowohl das Essen als auch die Arbeit für dich subjektiv betrachtet überlebenswichtig. Zuneigung der Eltern kann in der Kindheit zurecht als überlebenswichtig empfunden werden. Und dieses Gefühl bleibt oft bis ins Erwachsenenalter bestehen und agiert sozusagen „unter dem Radar“. So kann es durchaus vorkommen, dass bei Perfektionisten der Hunger langfristig zwanghaft unterdrückt wird, was z. B. mit der Entstehung von Essstörungen zusammenhängen kann (Rosa, et al., 2021).
Bulldozing ist ein unreifer Umgang mit Bedürfniskonflikten
Oben habe ich erwähnt, dass Bedürfnisse buchstäblich in Beziehung stehen. Ich möchte kurz die erläutern warum das wichtig ist. Körper und Geist können jedem Bedürfnis eine bestimmte Menge Ressourcen übergeben. Diese Ressourcen ähneln einer Art Energie ähnlich wie Freud’s „Libido“ und wird unterschiedlichen Trieben oder Funktionen zugeteilt. Dein Mentaler Fokus, Gedanken, Aktivierung von Prozessen wie Wundheilung, Herzfrequenz und Verdauung, Muskelaktivität und vieles mehr – alles braucht eine Form deiner begrenzten Energie. Wenn z. B. Nahrung benötigt wird, wird die Energie dem Suchverhalten mit dem Bedürfnis nach Nahrung gegeben, während Energie aus anderen Bereichen zurückgezogen wird (Panksepp, 2005, S. 166-167). Doch manchmal gibt es wie in jeder Beziehung Bedürfniskonflikte. Deine inneren Anteile, die diverse Bedürfnisse ausdrücken und dazu deine begrenzten Ressourcen brauchen, können entweder feindselig darum kämpfen oder kooperativ miteinander arbeiten. Wenn sie nicht kooperieren, gewinnt das aktuell dominanteste Bedürfnis – es betreibt Bulldozing. Aber willst du, dass in deinem Körper Nullsummenspiele und Kämpfe stattfinden? Um deine Beziehungen zu kitten, muss Vertrauen zwischen deinen inneren Anteilen aufgebaut werden.
Was Selbstvertrauen wirklich bedeutet
Als gesunder Mensch in einer gesunden Kultur kannst du vertrauen, dass deine Bedürfnisse in irgendeiner Form berücksichtigt werden. Häufig besteht aber nur das Vertrauen darauf, eben nicht berücksichtigt zu werden. So entsteht die Denkweise „nur ich kann mir besorgen, was ich brauche“. Auch innerhalb eines Menschen kann das passieren. Wenn du dir nicht erlaubst, dich um ein Bedürfnis zu kümmern, dann weiß ein Teil in dir, dass er ein dauerhaftes ungelöstes Problem hat. Dieser Teil kann dir nicht vertrauen, und das nimmst du als mangelndes Selbstvertrauen wahr. Dabei ist Selbstvertrauen bewiesenermaßen wichtig für die Gesundheit (Orth & Robins, 2022).
Wie du Selbstvertrauen kultivierst
Im Umkehrschluss bedeutet das, Disziplin (also „gute“ Disziplin, ohne Bulldozing) kann es nur im Zusammenhang mit Selbstvertrauen geben. All deine inneren Anteile und Bedürfnisse müssen wissen, dass sie sich auf dich verlassen können. Dann besteht auch nicht mehr die Notwendigkeit, deine Ziele zu sabotieren. Wie baust du echtes Selbstvertrauen auf? Meiner Meinung nach sollte der erste Schritt sein: „hinhorchen“. Viele Menschen haben durch den Automatismus der Unterdrückung verlernt, mitzubekommen wenn ein Bedürfnis sich meldet. Vielleicht weißt du nicht direkt, was dein Gefühl ausdrücken will, oder du verurteilst es aus Gewohnheit. Ziel ist sollte sein, eine Win-Win-Situation für deine Bedürfnisse zu schaffen. Es können viele innere Zweifel oder Ängste auftauchen, wenn du versuchst, innere Konflikte zu lösen. Das ist normal und notfalls kann ein Spezialist zu Rate gezogen werden. Doch ich denke nur, wenn der lange Weg zur inneren Kooperation begonnen wird, kann auch Harmonie entstehen. Und wenn du jetzt befürchtest, du musst erst jeden inneren Konflikt auflösen, bevor du irgendetwas tust, will ich dich beruhigen: dieser Prozess muss nicht abgeschlossen sein, sondern zunächst nur begonnen werden. Sobald du dir vertraust, dass du dich um deine Bedürfnisse kümmern willst, werden viele Dinge einfacher. Dein Leitfaden dabei sollte Geduld und Mitgefühl mit dir selbst sein.
Disziplin entsteht durch innere Harmonie automatisch
Wenn du den Prozess der inneren Beziehungspflege beschreitest, ist meiner Meinung nach Disziplin irgendwann das Überbleibsel. Deine Ziele entspringen schließlich deinen inneren Bedürfnissen. Wenn du dich um sie kümmerst, dann sieht es von außen so aus, als würdest du deine Ziele mit magischer Disziplin erreichen. Dabei machst du eigentlich nur einen kleinen Schritt nach dem anderen. Die Frage nach Disziplin wird sich dir nicht mehr stellen, weil du sie bereits lebst.
Abbildungsverzeichnis
Beitragsbild: Fitness (2016), abgerufen am 15.12.2024 unter https://pixabay.com/de/photos/fitness-training-fitnessstudio-1291997/.
Literaturverzeichnis
Orth, U., & Robins, R. W. (2022). Is High Self-Esteem Beneficial? Revisiting a Classic Question. American Psychologist, 77(1), S. 7-12.
Panksepp, J. (2005). Affective Neuroscience. New York: Oxford University Press.
Rosa, S. A., Alba, M.-E., Angel, M.-H., Dimitra, A., Esther, N., Ascensión, M., . . . Montserrat, G. (09. September 2021). Toward a Biological, Psychological and Familial Approach of Eating Disorders at Onset: Case-Control ANOBAS Study. Frontiers in Psychology, 12.
Visted, E., Vøllestad, J., Nielsen, M. B., & Schanche, E. (18. Mai 2018). Emotion Regulation in Current and Remitted Depression: A Systematic Review and Meta-Analysis. Frontiers in Psychology, 9.