Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das Wort „Bindungsstörung“ hören? Der Begriff wird im alltäglichen Sprachgebrauch oft inflationär verwendet, weshalb sich dieser Artikel zum Ziel gesetzt hat, das Thema aus der Perspektive eines konkreten Fallbeispiels zu diskutieren und unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse Impulse für die Praxis zu setzen.
Fallbeispiel: In einem psychologischen Zentrum, in dem integrative Lerntherapie im Gruppensetting angeboten wird, ist eine neue Förderassistentin namens Julia mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit schulischen, sprachlichen und kognitiven Defiziten konfrontiert. Eines Tages lernt sie dort ein achtjähriges Mädchen namens Amelie kennen, das ihr sofort sehr viel von sich erzählt und ihr gleichzeitig viele persönliche Fragen stellt. Die angeregte Konversation setzt sich fort, und in der Pause setzt sich Amelie auf Julias Schoß und sagt: „Ich fühle mich so wohl bei dir, ich will für immer bei dir bleiben.“ Diese übertriebene Nähe wird Julia etwas unangenehm, vor allem dann, als Amelie sie plötzlich fest umarmt und gar nicht mehr loslassen möchte. Als das Mädchen kurze Zeit später abgeholt wird, drückt sie der Assistentin zum Abschied einen dicken Kuss auf den Mund.
Anmerkung: Alle im Fallbeispiel genannten Namen wurden redaktionell geändert.
Wie kommt es, dass ein Kind einer fremden erwachsenen Person gegenüber so viel unangemessene Nähe zeigt? Die Antwort liegt nahe, dass es sich um pathologisches Verhalten handelt: Amelie hat eine Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung.
Typen der Bindungsstörung
In der ICD-10 wird eine „reaktive Bindungsstörung im Kindesalter (Typ I, F91.1)“ von einer „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (Typ II, F94.2)“ unterschieden. Während Kinder mit Typ I in ihrer Bindungsbereitschaft gegenüber Erwachsenen sehr gehemmt sind, zeigen Kinder mit Typ II – wie Amelie – ein konträres Bild mit enthemmter, distanzloser Kontaktfreudigkeit sogar ihnen vollkommen fremden Personen gegenüber (Brisch 2018, S. 535–536). In der ICD-11 wurde eine Kategorie für trauma- und belastungsbezogene Diagnosen eingeführt, in die u. a. die reaktive Bindungsstörung und die Bindungsstörung mit sozialer Enthemmung als Diagnosen des Kindesalters aufgenommen wurden (Maercker und Eberle 2022). Typ II wird hier als Störung enthemmter sozialer Beziehungsaufnahme („6B45 Disinhibited social engagement disorder“, DSED) definiert (Ziegenhain 2020, S. 237). Das Lexikon der Psychologie beschreibt die Störung als ein Muster der aktiven Kontaktaufnahme und Interaktion des Kindes mit fremden Erwachsenen, das durch mindestens zwei der folgenden Merkmale gekennzeichnet ist: Verminderte oder fehlende Zurückhaltung, übermäßig vertrautes verbales oder körperliches Verhalten, verminderte oder fehlende Rückversicherung bei der erwachsenen Bezugsperson und/oder kaum bzw. gar kein Zögern beim Weggehen mit der unbekannten erwachsenen Person (Heil 2022). Amelies Verhalten erfüllt in unserem Fallbeispiel alle vier der genannten Merkmale.
ICD-10 | ICD-11 |
---|---|
Reaktive Bindungsstörung im Kindesalter (Typ I, F91.1) | 6B44 Reactive attachment disorder (Reaktive Bindungsstörung) |
Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (Typ II, F94.2) | 6B45 Disinhibited social engagement disorder (Störung enthemmter sozialer Beziehungsaufnahme) |
Was kann die Ursache dafür sein, dass Amelie eine Störung enthemmter sozialer Beziehungsaufnahme entwickelt hat?
Traumata häufig Ursache für eine Bindungsstörung
Ätiologisch wird die Entstehung von Bindungsstörungen auf Traumata wie frühe Erfahrungen des Kindes von Misshandlung, Missbrauch, Gewalt und extremer Vernachlässigung durch Bindungspersonen zurückgeführt (Brisch 2018, S. 535). Wiederholte Trennungen von den Bezugspersonen durch Tod, Unfälle oder Suizid, sowie aufgrund von sexuellen oder ritualisierten körperlichen Missbrauchserfahrungen können bei einem Kind eine Bindungsstörung hervorrufen. Wird der Missbrauch z. B. durch den Vater ausgeübt, kann das Kind diesen trotzdem als hilfreiche und unterstützende Bindungsperson erleben, während er in der Missbrauchssituation als kaltherzig, gewalttätig und bedrohlich erlebt wird. Solche traumatischen Erlebnisse wirken zerstörerisch auf die gesunde psychische Entwicklung und vernichten jegliche Formen von Bindungssicherheit, wenn das Trauma durch Bindungspersonen ausgeübt wurde (Slangen 2018, S. 31). Um eine Bindungsstörung zu diagnostizieren, müssen die Symptome vor dem fünften Lebensjahr einsetzen, wobei die Diagnose nicht vor dem neunten Lebensmonat („Fremdeln“ ist normal) gestellt werden sollte. Eine Bindungsstörung geht oft mit umschriebenen Entwicklungsstörungen einher, und primär organische Ursachen sowie Autismus-Spektrum-Störungen sind auszuschließen (Ziegenhain 2020, S. 237).
Welche Aussichten hat Amelie, eine gesunde Bindungsbeziehung zu entwickeln?
Symptome persistieren oft über Jahre hinweg
Bei Kindern mit Typ I scheint der Aufbau einer positiven und emotional verlässlichen Bindungsbeziehung zu einer Symptomreduktion beizutragen, während die bisherigen Befunde bei Typ II nur bei einem Teil der beobachteten Kinder eine Reduktion der Symptomatik zeigen. Bei dem anderen Teil persistierten sie über Jahre hinweg (Ziegenhain 2020, S. 238). Auch in der ICD-11 sind die Symptome der enthemmten sozialen Bindungsstörung nach der Bereitstellung einer angemessenen Betreuung, im Gegensatz zur reaktiven Bindungsstörung Typ I, in der Regel hartnäckiger beschrieben, selbst bei der Entwicklung von selektiven Bindungen (World Health Organization 2022). In der mittleren Kindheit und Adoleszenz ist ein aufmerksamkeitssuchendes Verhalten typisch, und es werden wahllos oberflächliche Beziehungen zu Erwachsenen und Gleichaltrigen eingegangen (Heil 2022). Bei sehr vielen ursprünglich als Bindungsstörung mit Enthemmung diagnostizierten Kindern wird im späten Jugendalter oder jungen Erwachsenenalter eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert (Ziegenhain 2020, S. 238).
Bei einem Teil der betroffenen Kinder ist also eine Besserung in Aussicht. Welche Voraussetzungen muss Förderassistentin Julia nun als pädagogisch-psychologische Fachkraft und Bezugsperson mitbringen, um eine größtmögliche Symptomreduktion bei Amelie bewirken zu können?
Voraussetzungen für professionelle Bindungsfiguren
Bowlbys Bindungstheorie besagt, dass ein Kind neben den primären elterlichen Bindungspersonen auch sekundäre Bindungen eingehen kann, durch die es Sicherheit, Bedürfnisbefriedigung, Aufmerksamkeit und Nähe erfährt. Für die Entwicklung von Bindung ist die Qualität der Betreuungssituation und die Förderung von Sicherheit entscheidend. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Betreuung durch ein Elternteil oder durch eine Person außerhalb des familiären Netzwerkes gewährleistet wird (Slangen 2018, S. 58). Frühe Bindungsstörungen können sich im Grundschulalter mit komorbiden Symptomen wie ADHS, Sprachentwicklungsverzögerung oder einer Störung des Sozialverhaltens zeigen. Die individuelle psychotherapeutische Behandlung des Kindes ist für das Erleben neuer, möglichst sicherer Bindungsbeziehungen in der Spieltherapie von größter Bedeutung (Brisch 2018, S. 539). Auf der professionellen Ebene muss die Bezugsperson als elementare Voraussetzung bindungstheoretisches Wissen mitbringen, um unangemessenes Verhalten des Kindes im bindungstheoretischen Sinne interpretieren sowie auf Wünsche und Bedürfnisse entsprechend reagieren zu können. Auf der personellen Ebene sollte eine professionelle Bindungsfigur in ihrem Wesen empathisch, sensibel, sowie psychisch und physisch belastbar und – was sehr wichtig ist – mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit im „Reinen“ sein. Konfrontationen mit schrecklichen Lebensschicksalen müssen ausgehalten werden können (Slangen 2018, S. 59–61).
Fazit
Es wird zwischen der Bindungsstörung Typ I und Typ II unterschieden, wobei letztere mit enthemmter, distanzloser Kontaktfreudigkeit der betroffenen Kinder gegenüber vollkommen fremden Erwachsenen einhergeht. Traumata sind oft die Ursache für eine Bindungsstörung, ausgelöst durch frühe Erfahrungen von Missbrauch, Misshandlung, Gewalt oder schwerer Vernachlässigung durch Bindungspersonen. Die Symptome der Bindungsstörung mit Enthemmung bleiben selbst nach dem Aufbau selektiver Bindungen oft noch über Jahre hinweg erhalten. Professionelle Bindungsfiguren sollten auf jeden Fall über bindungstheoretisches Wissen verfügen, empathisch, sensibel und psychisch sowie physisch belastbar sein.
Literatur:
Brisch, K. H. (2018): Bindungsstörungen. In: Monatsschrift Kinderheilkunde 166 (6), S. 533–544.
Heil, Christina (2022): Bindungsstörung mit Enthemmung im Dorsch Lexikon der Psychologie. Online verfügbar unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/bindungsstoerung-mit-enthemmung.
Maercker, Andreas; Eberle, David J. (2022): Was bringt die ICD-11 im Bereich der trauma- und belastungsbezogenen Diagnosen? In: VER 32 (3), S. 62–71. DOI: 10.1159/000524958.
Slangen, Mila (2018): Bindungsstörungen und unsichere bindungsmuster : chancen und Grenzen der stationären Jugendhilfe. Hamburg: Diplomica Verlag GmbH. Online verfügbar unter http://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&scope=site&db=nlebk&AN=2070520.
World Health Organization (2022): ICD 11. Online verfügbar unter https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f467941148.
Ziegenhain, Ute (2020): Bindungsstörungen. In: Manfred Döpfner, Martin Hautzinger und Michael Linden (Hg.): Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche. 1. Auflage 2020. Berlin: Springer Berlin; Springer (Psychotherapie: Praxis), S. 237–240.
Quellenangabe:
Adobe Stock, #40699631, schulkind umarmt seine mutter, Von contrastwerkstatt